Was bedeutet Freiheit?
Was bedeutet Freiheit?
Jiddu Krishnamurti | 13.04.2023 | 6 Minuten

Jiddu Krishnamurti über Freiheit und Rebellion

Es muss diejenigen geben, die sich auflehnen, denn nur solche Leute können eine neue Welt schaffen – eine Welt, die nicht auf Besitz, Macht und Prestige aufgebaut ist.

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Ich möchte gern das Problem der Freiheit mit Ihnen erörtern. Es ist ein sehr komplexes Problem, das tiefgründiges Studium und Verständnis erfordert. Wir hören viel von Freiheit, von religiöser Freiheit und der Freiheit zu tun, was man will. Umfangreiche Bücher sind darüber geschrieben worden.

Was bedeutet es nun, frei zu sein? Bedeutet Freiheit, zu tun, was uns beliebt, zu gehen, wohin man will, zu denken, was man möchte? Das tun Sie ohnehin. Nur Unabhängigkeit zu haben, bedeutet das Freiheit? Viele Menschen in der Welt sind unabhängig, aber sehr wenige sind frei.

Frei zu sein, ist, intelligent zu sein, aber Intelligenz entsteht nicht einfach aufgrund des Wunsches, frei zu sein. Sie entsteht nur, wenn Sie anfangen, Ihre ganze Umgebung zu verstehen, die sozialen, religiösen, elterlichen und traditionellen Einflüsse, denen Sie ständig unterliegen.

Aber die unterschiedlichen Einflüsse zu verstehen – die Einflüsse Ihrer Eltern, der Gesellschaft, der Kultur, der Sie angehören, Ihres Glaubens, Ihrer Götter, Ihres Aberglaubens, Ihrer Tradition – all das zu verstehen und davon frei zu werden, erfordert tiefe Einsicht.

Im Allgemeinen unterwerfen Sie sich diesen Einflüssen, weil Sie innerlich verschreckt sind. Sie haben Angst davor, keine gute Position zu erreichen, einer Tradition nicht zu folgen, davor, etwas nicht richtig zu machen. Freiheit ist aber in Wirklichkeit ein Geisteszustand, in dem es keine Furcht, keinen Zwang und keinen Drang nach Absicherung gibt.

Verstehen Sie dies bitte, denn es ist der wirkliche Schlüssel zum Verständnis des Problems Freiheit. Ob in dieser Welt der Macht, Stellung und Autorität oder in der so genannten spirituellen Welt, in der Sie sich darum bemühen, tugendhaft, edel, heilig zu sein – von dem Moment an, in dem Sie jemand  sein wollen, sind Sie nicht mehr frei.

Haben Sie nicht bemerkt, dass Ihre Eltern und Lehrer Ihnen sagten, dass Sie etwas aus sich machen müssen, dass Sie so erfolgreich sein müssen wie Ihr Onkel oder Ihr Großvater? Oder Sie versuchen, dem Vorbild eines Helden zu folgen, wie die Meister zu sein, die Heiligen – also werden Sie nie frei sein.

Freiheit liegt also nicht im Versuch, etwas anderes zu werden, nicht darin, immer zu tun, was einem gerade Spaß macht, und nicht darin, der Autorität Ihrer Tradition, Ihrer Eltern oder Ihrer Gurus zu folgen, sondern im Verständnis dessen, was Sie selbst von Augenblick zu Augenblick sind.

Ihre Erziehung hat Sie dazu ermutigt, dies oder das zu werden – aber das ist kein Selbsterkennen. Ihr „Selbst“ ist eine sehr komplexe Angelegenheit; es ist nicht nur das Wesen, das sich streitet, spielt und Angst hat. Es besteht nicht nur aus all den Gedanken, die Sie denken, sondern auch aus all dem, was durch andere Leute in Ihren Geist gelegt wurde. Es ist nur dann möglich, das wirkliche Leben wahrhaft zu verstehen, wenn Sie nicht jemand  sein wollen, wenn Sie nichts imitieren, wenn Sie niemandem folgen — was in Wirklichkeit bedeutet: sich gegen die ganze Tradition aufzulehnen, jemand  zu werden. Das ist die einzig wahre Revolution, und sie führt zu außergewöhnlicher Freiheit. Diese Freiheit zu kultivieren ist die wahre Aufgabe von Selbst-Bildung und Erziehung.

Wissen Sie, was Gesellschaft ist? Gesellschaft ist die Beziehung zwischen Mensch und Mensch, nicht wahr? Menschliche Beziehungen machen die Gesellschaft aus, und unsere gegenwärtige Gesellschaft ist auf einer Beziehung der Erwerbstätigkeit aufgebaut, oder nicht? Die meisten von uns wollen Geld, Macht, Besitz, Autorität, auf der einen oder anderen Ebene suchen wir Ansehen und Prestige, und so haben wir eine Wettbewerbsgesellschaft aufgebaut.

Solange wir gewinnsüchtig sind, solange wir Stellung, Prestige, Macht und all das übrige wollen, gehören wir zu dieser Gesellschaft und sind deshalb von ihr abhängig. Wenn man aber nichts von alledem mehr möchte und man nur das bleibt, was man in großer Bescheidenheit ist, dann ist man draußen – schon damit rebelliert man gegen diese Gesellschaft und bricht mit ihr.

Der Ehrgeiz, reich zu sein, dies oder jenes zu sein, fällt nur dann ab, wenn wir selbst das Verderbliche, die korrupte Natur des Ehrgeizes erkennen. In dem Augenblick, in dem wir erkennen, dass das Verlangen nach Macht in jeglicher Form von Grund auf böse ist, streben wir nicht länger nach Macht.

Es muss diejenigen geben, die sich auflehnen, die nicht teilweise, sondern total gegen diese Muster des Ehrgeizes aufstehen, denn nur solche Leute können eine neue Welt schaffen – eine Welt, die nicht auf Besitz, Macht und Prestige aufgebaut ist.

Ihr wisst, dass eine große Kunst darin liegt, zu einer Fülle von Wissen und Erfahrung zu kommen – die Fülle des Lebens zu kennen, die Schönheit der Existenz, die Auseinandersetzungen, die Leiden, das Lachen, die Tränen – und sich doch einen sehr einfachen Geist zu bewahren; und Ihr könnt nur dann schlicht und bescheiden sein, wenn Ihr zu lieben wisst.

Was heißt „intelligent sein“? Schon Ihre Eltern und Ihre Lehrer wollten, dass Sie sich mit etwas identifizieren, damit Sie glücklich und sicher sind. Um aber Sie selbst zu sein, um intelligent zu sein, müssen Sie dazu nicht alle Einflüsse durchbrechen, die sie wie fremde Mächte konditionieren?

Was heißt „intelligent sein“? Lassen Sie uns ganz langsam und geduldig an die Frage herangehen und es herausfinden. Herausfinden, bedeutet nicht, zu einem Schluss zu kommen. Ich weiß nicht, ob Sie den Unterschied erkennen. In dem Moment, da Sie in der Frage, was Intelligenz sei, zu einem Schluss kommen, hören Sie auf intelligent zu sein. Das ist es, was die meisten Leute gemacht haben: Sie sind zu Schlüssen gekommen. Deshalb haben sie aufgehört, intelligent zu sein.

Ein intelligenter Geist ist ein Geist, der sich nicht mit Erklärungen und mit Überzeugungen zufrieden gibt; auch ist er kein Geist, der glaubt, denn Glaube ist eine andere Form von Überzeugung. Ein intelligenter Geist ist ein forschender Geist, ein Geist, der überall beobachtet und lernt.

Intelligenz ist etwas sehr Subtiles, sie wirft keinen Anker. Sie entsteht nur, wenn Sie die ganze Arbeitsweise des Geistes verstehen – Ihres eigenen Geistes. Ihr Geist ist das Ergebnis der ganzen Menschheit.  Intelligenz entsteht also aus dem Verständnis Ihrer selbst; und Sie können sich selbst nur verstehen, wenn sie ihre Beziehungen zur Welt der Menschen, Dinge und Ideen verstehen.

Intelligenz ist nichts, was Sie erwerben können wie Erlerntes; sie erscheint erst bei großer Auflehnung, wenn Sie rebellieren, das heißt, wenn es keine Angst gibt – was in Wahrheit bedeutet, wenn es eine Empfindung von Liebe gibt. Denn wo die Angst fehlt, nur dort ist die Liebe.

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(Textauswahl & Redaktion: Andreas Wagner (Brennstoff)
aus: J. Krishnamurti: Das Wesentliche ist einfach. Verlag Herder)

Artikelfoto: © Boonya Choat / istock-photo

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Autor

Jiddu Krishnamurti

Jiddu Krishnamurti (geboren 1895 in Indien, verstorben 1986 in Kalifornien) war ein indischer Philosoph und Theosoph, der sich u.a. mit der geistigen Freiheit durch Meditation und Selbstbeobachtung des Geistes beschäftigte.

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Jiddu Krishnamurti

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