von Roland Gnaiger
Linz, 16. Mai 2019 (präzisiert und ergänzt: Doren, 3. Juni 2019)
[Vollversion des Artikels, der im Brennstoff Nr. 56 in gekürzter Fassung abgedruckt wurde]
Es geht mir nicht um Land gegen Stadt. Ich liebe das Land, und ich liebe auch die Städte. Beider Wohl und Zukunft sind nicht zu trennen. Beiden kommen jeweils andere, elementare wirtschaftliche und gesellschaftliche Aufgaben zu. Und beide verkörpern so unterschiedliche wie unverzichtbare Erlebniswelten.
Die alte Balance zwischen Stadt und Land, differierender städtischer und ländlicher Kultur und Lebensform allerdings ging und geht weiter verloren: die Wirtschaftskraft, das Arbeitsangebot, die kulturelle Vielfalt, die Einwohnerzahlen … Leuchtkraft und Anziehung der Städte nehmen in dem Maße zu, wie das Land sie verliert. Dass sich die Abwärtsspirale gegen das Land weltumspannend dreht, ist für uns hier kein Trost. Die globalen Themen und Probleme unserer Zeit – die Migrationsströme, die Klimanot und der unlängst so alarmierend vermittelte Verlust an Biodiversität – gehen zu entscheidenden Teilen vom Land aus.
In Afrika haben aufgrund unserer Kleiderspenden hunderttausende Schneider ihre Arbeit verloren. Bauern gehen ihrer Lebensgrundlage verlustig, weil Hühnerschenkel aus Holland auf afrikanischen Dorfmärkten billiger zu erwerben als Hühner selbst zu züchten sind. Und wenn der saudi-arabische Bedarf an frischem Obst und Gemüse den BewohnerInnen an Afrikas Ostküste die Nahrungsgrundlagen entzieht, beginnt deren Wanderung. Landflucht, ob in Richtung regionaler Megacitys oder nach Europa, extreme Dürren oder Überschwemmungen und der Verlust der Artenvielfalt – alle haben miteinander zu tun, sind einander gleichermaßen Ursache und Wirkung.
Um gegenüber diesem Sachverhalt wach und empfänglich zu sein, muss man den »immer angstvolleren Schrei der Erde und ihrer Armen hören« – wie das Papst Franziskus am Wochenende des 11. Mai 2019 (Fußnote 1) formuliert hat. Wir dürfen die Zerrüttung und den Niedergang des Landes nicht akzeptieren. Am Los des Landes entscheiden sich das menschliche Schicksal und die Zukunft unseres wunderbaren Planeten.
Gerald Mandlbauer, Chefredakteur der Oberösterreichischen Nachrichten, hat in einem Leitartikel einen »Masterplan Provinz« eingefordert (Fußnote 2). Ich stimme dieser Forderung uneingeschränkt zu.
Es existiert die These, zwischen Stadt und Land gebe es keinen Unterschied mehr, jedenfalls würden sich beide immer ähnlicher. Vor allem urbane Intellektuelle hängen ihr an. Und sie werden bestätigt, zuvorderst durch eine soziologische Perspektive: Ehescheidungen gehören auch am Land zunehmend zur Normalität, Geburtenraten gehen hier wie dort zurück, die Suizidhäufigkeit gleicht sich an, ebenso der Drogen- und Alkoholkonsum, während der Kirchenbesuch auch in den Dörfern seltener wird.
Die Ränder der Dörfer fransen aus wie die der Städte. Gewerbegebiete sind längst ununterscheidbar. Da wie dort degenerieren Gärten zu von Rasenrobotern versorgten Zierflächen. Zudem ist von der Allgegenwart jener unfassbaren und historisch gänzlich unbekannten Hässlichkeit zu reden, die unser Wirtschaften am Land wie in den Städten hinterlässt.
Lange waren Stadt und Land auch anhand von Lebenstempo und Rhythmus zu unterscheiden; die Verflüchtigung dieses Gegensatzes ist jung. Als ich vor vierzig Jahren mit meiner Frau in den Bregenzerwald zog – sogar ziemlich weit außerhalb des nächsten Dorfzentrums –, war der Wechsel der ländlichen Lebens- und Wirtschaftsformen längst in Gang. (Unser Umzug war und ist dafür auch selbst Beispiel.) Und doch waren die Spuren traditioneller Lebens- und Wirtschaftsformen noch deutlich erkennbar:
Anton, der zwischenzeitlich verstorbene Altbauer des einzigen bis heute bewirtschafteten Hofs in unserer Nachbarschaft, war gut und gerne zwölf Stunden täglich an der Arbeit. Bei dieser war er die personifizierte Stetigkeit. Trotzdem hatte er immer Zeit. Wenn er mit seinem schweren, wohl gesetzten Schritt am Weg zu seinen Weiden an unserem Garten vorbeiging, war ein Gespräch obligatorisch. Nie ließ er das Gefühl aufkommen, er hätte anderes, Wichtigeres zu tun. Ohne jemals von einer diesbezüglichen Disziplin gehört zu haben, war er »im Hier und Jetzt«. Er war der Souverän seiner Zeit, Meister der Spontaneität und des »steten Flusses«. Unvergesslich ist seine Verschmitztheit. Er hatte einen ausgeprägten Sinn für Humor und immer einen selbstironischen Witz auf Lager. Besonders waren auch seine Erinnerungen; mit ihnen konnte er jedes Problem relativieren und in ein richtiges Verhältnis rücken.
Zwei Generationen später: Der heutige Hofbetreiber geht nicht mehr an unserem Garten vorbei, er tangiert ihn mit seinem Traktor oder Pick-up – mit weit überhöhter Geschwindigkeit. Falls man ihn doch gehen sieht, dann im Laufschritt. Dementsprechend zählen für ihn weder die Sonntags- noch die Nachtruhe. Von Scheinwerfern unterstützt erfolgt das Ausbringen der Gülle oder das Einbringen der Holzernte auch noch um elf Uhr nachts oder an Feiertagen. Lachen sieht man ihn nie.
Und doch gibt es neben alledem auch noch die traditionellen Unterschiede: Immer noch bleiben am Land Haustüren unverschlossen, weiterhin haben Selbst- und Nachbarschaftshilfe größere Bedeutung. Und immer noch werden die Mitglieder der künstlerischen und wissenschaftlichen Eliten mehrheitlich am Land geboren und sterben in der Stadt. (Der andauernde Verlust der Provinz an Talenten ist der Grund dafür, dass ich regelmäßig Themen der Land- und Dorfentwicklung auf meinen Lehrplan gesetzt habe und von den Studentinnen und Studenten hoffe, sie tragen ihre im Studium erworbene Kompetenz auch zurück an ihre Herkunftsorte.)
Als eine seiner zahlreichen genialen Ideen hat Roland Gruber, der Spiritus Rector von LandLuft, eine Empfehlung formuliert: Die Europäische Union, die unlängst beschlossen hat, den internationalen Studentenaustausch nochmals verstärkt zu befördern, möge neben dem Auslandssemester doch auch ein »Auf’s-Land-Semester« auf die Beine bringen. Welch eine Liebeserklärung an das Land! Sie muss Eingang finden in den »Masterplan Provinz«.
Einen weiteren, zentralen und uralten Unterschied hat Christoph Chorherr unlängst auf den kürzesten Nenner gebracht: »Geht man am Land vor sein Haus, kennt man die meisten. Tritt man in der Stadt vor die Tür, so kennt man die wenigsten«. (Fußnote 3)
Im Mangel an Anonymität liegt einer der Hauptgründe für die »Flucht vom Land«: Man wird am Land nicht singulär und nicht als Individuum wahrgenommen, sondern unter die ganze Last der Sippe gedrückt. Damit hängen einem Geschichten und Zerwürfnisse an, deren Ursprünge sich zumeist im Dunkel der Vergangenheit verlieren. Die Unbeholfenheit im Kontakt, die Unfähigkeit zu angemessener Kommunikation und Konfliktlösung lassen mich am Land immer wieder zweifeln und verzweifeln. Mir scheint, ein unverzichtbarer Teil eines »Masterplan Provinz« müsste das Kapitel »Sozialhygiene« sein – damit zuletzt nicht Cesare Pavese recht behält, der in seinem Roman Der Mond und die Feuer meint: »Ein Dorf braucht man, und wäre es nur wegen der Genugtuung, wegzugehen«. (Fußnote 4)
Der behaupteten Angleichung von Land und Stadt stehen jene Bereiche gegenüber, wo die Gemeinsamkeit von Land und Stadt einst weitaus größer war, jene Felder, in denen Stadt und Land immer weiter auseinanderdriften.
So wie andere, ähnlich große Orte hatte Bad Goisern in meiner Jugend noch ein Kino. Kulturelle Aktivitäten bauen am Land ab, Gemeinde- und Pfarrbibliotheken werden zum Ausgedinge des Bücherbestands der verstorbenen Tante. Die Ausdünnung von Nahversorgung und Postdiensten wiegt am Land schwerer als in den Städten. Überhaupt ist den Dörfern Urbanität verloren gegangen, soziale und bauliche. Letztere lässt sich mit historischen Plänen und Bildern belegen, denen zufolge die meisten Ortskerne einst dichter waren, als sie heute sind. Und dann gibt es noch die Frühlingsblüte, die in den Brachen der industriellen Landwirtschaft weit weniger erlebbar ist als in den Städten.
Was bleibt hier übrig von der behaupteten Land-Stadt-Gleichheit? Wo Angleichung erfolgt, geschieht sie fast ausschließlich zu Ungunsten des Landes; die damit einhergehenden Verluste rangieren weit vor den Gewinnen. Neben den »ausgebrannten« Industrieregionen Europas ist die Provinz die große Verliererin der globalen Transformation. Die Reaktion der Betroffenen erfolgt dementsprechend und nur selten konstruktiv: in Form des Wahlverhaltens, von Abwanderung, erhöhtem Alkoholkonsum oder/und Resignation.
Alle bisher gesammelten Befunde stimmen in hohem Maß auf Entmutigung ein. Denn genau besehen sind die genannten Problem zu übermächtig, zu großflächig und in Bausch und Bogen nicht zu lösen, käme nicht am tiefsten Punkt der Bestandserhebung Hoffnung ins Spiel – in Gestalt jener Gemeinden und Regionen, die begonnen haben, ihre Zukunft selbst in die Hand zu nehmen und zu gestalten: Ybbsitz und Waidhofen in Niederösterreich, Ottensheim in Oberösterreich, Hopfgarten oder Fließ in Tirol, Zwischenwasser, Langenegg oder Krumbach in Vorarlberg. Sie zeigen Wege jenseits des destruktiven Mainstreams auf.
Und sie gründen auf dem Umstand, dass es »das« Land nicht gibt – das Land »als solches«. Das haben wir bei LandLuft gelernt und mit jeder Bereisung tiefer verstanden: Die Unterschiede zwischen benachbarten Dörfern sind mitunter verblüffend groß. Unter der Decke globaler Gemeinsamkeiten liegen nach wie vor beträchtliche Differenzen: Jeder Region, jedem Dorf sind neben weltweiten Zwängen auch andere Bedingungen, andere Kulturen, andere Hebel der Veränderung eigen. Alle haben sie eigene Handlungsräume und eigene Wege zum Besseren.
Und um vieles mehr als im kollektiven Bewusstsein verankert findet sich die Lösung bei den Menschen vor Ort. In der Übersichtlichkeit und genaueren Kenntnis der Einflussgrößen und handelnden Personen liegen die entscheidenden Vorzüge gegenüber den intransparenten und schwerfälligen Entscheidungsstrukturen großer städtischer Verwaltungen.
Jedes Erfolgsmodell folgt einem eigenen Muster: Ottensheim reaktiviert seinen Markt und Ortsplatz zu einem sozialen Brennpunkt. Fließ hält seine Kindergärten 360 Tage im Jahr offen und damit junge Familien im Ort. Krumbach gestaltet seine Bücherei so attraktiv, dass Lesen ganz selbstverständlich zur Dorfkultur gehört. Zwischenwasser zeichnet sich als Pionier kommunaler Energiepolitik aus. Und Langenegg hat gar eine eigene Dorfwährung eingeführt, um Waren- und Dienstleistungskreisläufe im Ort zu halten.
Die Öffnungsdauer von Kindergärten, engagierte Schulen, bestens ausgestattete und gestaltete Büchereien, forcierte Nahversorgung und lebendige Marktkultur, ein Verständnis für den originären Baubestand und den Wert von Ortszentren, eine besondere Bedachtnahme auf die Jugendlichen – auf alle diese Themen kann im von Gerald Mandlbauer geforderten Programm für die Provinz nicht verzichtet werden.
Unverzichtbar im Masterplan ist zudem ein Ende des Wildwuchses an den Rändern, die Reaktivierung historischer Ortszentren und die Errichtung von Siedlungen, welche die Bezeichnung »Siedlung« oder »Ensemble« aufgrund ihrer räumlichen Qualitäten und Vernetzung auch wirklich verdienen. Sorgfalt im Umgang mit Grund und Boden, verbesserter öffentlicher Verkehr, behutsam gestaltete Grün-, Freizeit- und Erholungsräume, Reduktion des Energiebedarfs gehören ebenso dazu wie eine benutzerfreundliche und wesentlich sorgfältiger gestaltete Architektur.
Das Wohlergehen der Regionen kennt mannigfaltige Ansatzhebel und Gestaltungsfelder. LandLuft hat sich der Baukultur verschrieben. In dem Sinne, in dem wir Kausalität nicht länger als lineare Abfolge von Ursache und Wirkung, sondern als dynamisches Wirkungsfeld verstehen, nimmt Baukultur auf alle Lebensfaktoren Einfluss und lässt sich von allen befruchten. Für jene, die Gemeindepolitik als Gestaltungsaufgabe begreifen, ist sie ein wunderbarer, ein faszinierender Einstieg, Auftakt für unzählige Initiativen und Projekte. Baukulturinitiativen legen Potenziale frei, beflügeln kreative Energien und die BürgerInnen. Gestaltung ist ihr gleichberechtigter Bestandteil. Ein sorgfältig geformtes Gemeindezentrum vermag einer Gemeinde einen sozialen und kulturellen Impuls, ein neues Zugehörigkeitsgefühl und eine erneuerte Würde zu verleihen.
In einem derartigen Koordinatensystem ist Schönheit ein zentraler Bestandteil. Wir sitzen so lange in der Falle, wie wir das Notwendige und Nützliche gegen das Schöne ausspielen. Für ihren untrennbaren Zusammenhang bietet gerade das Land und besonders seine Bautradition den besten Beleg: In so gut wie jedem landwirtschaftlichen Ensemble und in jedem Dorf ließen sich baukulturelle Qualitäten und Besonderheiten entdecken. Ställe und Städel, ja jedes landwirtschaftliche Funktionsgebäude war ein kulturelles Manifest. Auch Produktionsbauten und Nutzlandschaften waren einst von poetischer Kraft.
In der Spaltung von Nützlich und Schön liegt die große Tragik der Moderne. Die Schöpfung ist aus beidem gebaut! Schönheit als gesellschaftliches und politisches Ziel gehört ganz zuvorderst in den Masterplan – und nicht nur in den der Provinz!
Das Sensorium für das Schöne, das uns allen eigen ist (in unterschiedlichen Ausmaßen frei und entwickelt), schenkt Orientierung für das ökologisch Erforderliche, für das langfristig ökonomisch Vernünftige und sozial Ausgewogene. Das gilt für die Architektur wie für die Landwirtschaft und für alle anderen gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Felder. Dauerhaft ist das Nützliche nicht ohne das Schöne zu bekommen!
Es ist erhellend, festzustellen, dass die baukulturelle Qualität von Dörfern durchaus denselben Mustern folgt wie die der Stadt: vitaler Wechsel von Straßen und Plätzen, von Enge und Weite, von Ruhe und kommunikativer Quirligkeit. Einprägsame Durchgänge und verblüffende Hinterhöfe; überraschende Durch-, Ein- und Ausblicke, abrupte Höhensprünge. Schauplätze und intime Nischen; Sonne speichernde Rückwände und schattig kühle Gastgärten, stimulierende Sockelzonen neben ausstrahlenden Hochpunkten. Solche Vielstimmigkeit und Vielfalt der Erlebnisse gehören zum Dorf, genauso wie die Kinderbetreuung, die Altenpflege und eine funktionierende Straßenreinigung. Denn auch hierfür gilt: Dauerhaft ist das Nützliche nicht ohne das Schöne zu haben!
Und was auf Ortsplanung und Architektur zutrifft, gilt auch für die Land- und Forstwirtschaft. Auch diesbezüglich täuscht uns das ästhetische Empfinden nicht. Was ich als urbanistische Vielfalt und Lebendigkeit beschrieben habe, ist in der agrarischen Welt die Biodiversität. Auf der Ebene unserer Wahrnehmung ist es die Stimulanz von Viehweiden und Getreideäckern, von Gemüseäckern, Gewächshäusern und Blumenbeeten, von Hainen und Gärten, von Streuobst-, Streue- und Blumenwiesen, von Spaliergehölzen, Beerenstauden und Rankgewächsen, von Windschutzhecken, Obstbaumgruppen und Birnbaumalleen, von Bienen- und Schmetterlingsweiden, von Gräben und Furten, von Wasserläufen, Froschtümpeln, Fischteichen und Dorfweihern, von Hügeln und Ebenen, von Sonnenauf- und Sonnenuntergängen.
Mit weltentrückter Romantik hat dies ganz und gar nichts zu tun, sondern mit einer das Leben sichernden Nachhaltigkeit, somit mit Vernunft und Realismus und einem Wertekompass, der uns verlässlicher leitet als ungelesene oder manipulierte Statistiken und der entfesselte globale Aktionismus und dessen Orientierungslosigkeit.
Das Land ist im Sog, im Bild und Bann der Städte heillos verloren gegangen, hat Eigenes und Bewährtes aufgegeben und Neues nicht entwickelt. Landwirtschaft, Tierzucht und Gartenbau lassen sich nicht restlos industrialisieren; Muße und freie Zeit nicht gänzlich und ungestraft kommerzialisieren. Die Landwirtschaft ist die Säule und der Angelpunkt eines Lebens am Land. Erst wenn sie ihre Bedeutung zurückgewinnt und aus ihrer zerstörerischen, auch selbstvernichtenden Fehlorientierung herausfindet, wird das größte Potenzial des Landes, eine seiner wesentlichsten Bedeutungen und Kraftquellen erneut freigelegt. Das ist eine wichtige Forderung für den Masterplan – ich vermute, der entscheidendste!
»Von einer neuen Wirtschaft hängt das Schicksal des Planeten ab«, ließ Papst Franziskus verlauten, eine Wirtschaft, »die leben lässt und nicht tötet, die einschließt und nicht ausschließt, die menschlich macht und nicht entmenschlicht, die sich um die Schöpfung sorgt und nicht ausbeutet« – ein neues Wirtschaftsmodell auf der »Grundlage von Solidarität und Gleichheit«. (Fußnote 1) Das Land, vielmehr noch die Natur, ist die unentrinnbare Grundlage unseres Lebens, der existenzielle Ort unserer Nahrungsproduktion, die Quelle unserer materiellen Existenz und Erzeugnisse. Und es ist gleichermaßen ein Ort des Ausgleichs, einer besonderen Kraftquelle, eine Stätte der Orientierung, der Inspiration und der Poesie.
Ja, es gibt nichts zu beschönigen und zu verklären. Die Sozialgeschichte des Landlebens ist uns beklemmend bekannt, ihre vielen Schattenseiten, die bitteren, von schwerstem Unrecht, Leid und grauenhafter Entbehrung belasteten Biografien. Die jüngste Geschichte des Landes hingegen ist die Geschichte einer Selbstaufgabe, einer Verdrängung und Vernachlässigung. Deutlicher noch: die Geschichte eines schändlichen Liebesentzugs.
Was bewirkten die immer dringlicheren Warnungen, was Vernunftappelle bei gleichzeitigem Mangel an Empathie und Sinn für das Schöne? »80 % der Insektenpopulation gingen in den vergangenen vierzig Jahren verloren«, oder: »Täglich verlieren wir in Österreich 11,8 Hektar Wiesen und Äcker durch die Verbauung mit Straßen, Einkaufszentren oder Industriehallen«? Alles zu abstrakt, um Betroffenheit zu erzeugen? Im Overkill medialen Informationskonsums verebbt jeder Handlungsimpuls im Stakkato fortgesetzter Erregung. An die Stelle einer angemessenen, letztlich heilsamen Traurigkeit treten Depression oder die pauschale Wut.
Niemand öffnet sich den Vernunftgründen, der nicht zuvor von Fülle, Schönheit und Vielfalt beglückt wurde und deren Verlust schmerzlich empfand. Wer nicht mit Käfern gespielt, Wiesenblumen zwischen Buchseiten getrocknet und Obstbäume abgeerntet hat, den scheinen die bedrückendsten Fakten nicht zu erreichen, der erfasst auch nicht deren kausalen Zusammenhang mit unser aller Existenz.
Wenn ich von meinem Haus am Land, vor dem meine Frau einen wundervollen Garten hegt, in einer schlaflosen Nacht hinein in die Stille des Weltalls höre, dann beschwichtigt das die Aufregung der Welt und meines Alltags, dann weiten sich die Dimensionen. Sie werden größer noch als die lehrreichsten Erfahrungen, die ich auf meinen Reisen durch die Kontinente sammeln durfte.
Die Natur setzt laut Albert Camus »dem Irrsinn (dem irrenden Sinn?) der Menschen ihre ruhigen Himmel und ihren Sinn entgegen«. Er hat notiert:
»Wir erleben die Zeit der Großstädte.
Freiwillig amputiert man der Welt,
was ihre Dauer bewirkt: die Natur,
die Hügel, die Beschaulichkeit der Abende.« (Fußnote 5)
Als Bub saß ich vollkommen gebannt und selbstvergessen vor der Schmetterlingssammlung meines um drei Jahre älteren Cousins. Von feinen Nadeln aufgespießt waren sechzig bis achtzig verschiedene Schmetterlingsarten in flachen, schubladenähnlichen Holzvitrinen präsentiert. Ob die drei, vier Exemplare, die man in günstigen Momenten gegenwärtig noch sehen kann, auch dabei waren, weiß ich nicht. Die teils handtellerbreiten Flügelspannweiten und eine verzaubernde Farben- und Formenpracht führten mein Verständnis und meine Verbundenheit um vieles tiefer, als ich damals ahnte.
Der russisch-amerikanische Schriftsteller Vladimir Nabokov beschreibt eine Form der Landbeziehung in seinen Lebenserinnerungen so:
»Und am meisten genieße ich die Zeitlosigkeit,
wenn ich – in einer aufs Geratewohl herausgegriffenen
Landschaft – unter seltenen Schmetterlingen
und ihren Futterpflanzen stehe.
Das ist Ekstase, und hinter der Ekstase ist etwas anderes,
schwer Erklärbares. Es ist wie ein kurzes Vakuum,
in das alles strömt, was ich liebe.
Ein Gefühl der Einheit mit Sonne und Stein.« (Fußnote 6)
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Autor: Roland Gnaiger
Fußnoten zum Artikel:
(1) Papst Franziskus, ORF: https://orf.at/stories/3121842/, 11. Mai 2019
(2) Gerald Mandlbauer, Ein Masterplan Provinz, Oberösterreichische Nachrichten, 20. April 2019
(3) Christoph Chorherr, Abschiedsrede aus der Politik, Wien, 7. März 2019
(4) Cesare Pavese, Der Mond und die Feuer, EDITION BLAU, Zürich 2016; S. 11, Erstausgabe Turin 1950
(5) Albert Camus, Heimkehr nach Tipasa, Neue Arche Bücherei 1984 (im französischen Original: L’été, 1954)
(6) Vladimir Nabokov, Erinnerung, sprich: Wiedersehen mit einer Autobiographie (1966), Gesammelte Werke, Rowohlt, Reinbek bei Hamburg 1991, S. 186
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