„Der Fluss Lethe wird in der griechischen Mythologie als Fluss des Vergessens bezeichnet. Wer sein Wasser kostet oder in ihm badet, der verliert die Erinnerung.
Genau dies ist mit uns als Gesellschaften in den letzten Jahren während Corona passiert. Die meisten in der Gesellschaft haben vergessen, wie das Totalitäre aussieht, nur weil es in einem neuen Gewand wiederkam. Haben vergessen, wie es sich in der Sprache manifestiert und sie vereinfacht, sie verengt, sie radikalisiert. Wie die Sprache dabei eskaliert. Und wie es funktioniert, Menschen gegeneinander aufzustacheln..
Die Politik hatte mit einem Mal kein Korrektiv mehr, sondern wurde vom Großteil der Kunst- und Kulturszene, der etablierten Medien, der Universitäten und Akademien und großen Teilen der Bevölkerung unterstützt."
Aus dem Klappentext von „Lethe. Vom Vergessen des Totalitären. Politische Essays 2021-2022“
Jan David Zimmermann hat während zwei Jahren Corona die Entwicklungen und Entgleisungen in der Sprache beobachtet und dokumentiert. Er schreibt:
„Das kritische „Wehret den Anfängen“ gilt nicht nur den gesellschaftlichen Phänomenen, sondern gerade auch für die Art und Weise, wie wir mit Sprache umgehen, welche Metaphern wir verwenden, welche Wörter wir gebrauchen, aus der Politik entnehmen und welche Argumente wir übernehmen. Denn die Kräfte, die sich mit Sprache auseinandersetzen (Literatur, Philosophie, Kunst) haben sich vielfach auch damit beschäftigt, was die Sprache einleiten kann, wo sie hinführen kann, was sie anzeigt, was sie antizipiert: Wie wir miteinander oder übereinander sprechen, was für Begriffe wir verwenden, welche Bezeichnungen wir für unsere Freunde, insbesondere aber für unsere Feinde verwenden. Eine entsprechende Sprachkritik war jahrzehntelang die selbstauferlegte Aufgabe der Literatur, sie hat (vielfach zu Recht) die eskalierende Sprache der Rechtspopulisten kritisiert.
Während Corona haben diese angeblich progressiven Kräfte, diese Warner der Spracheskalation, jedoch kläglich versagt. Renommierte Koryphäen der österreichischen und deutschen Literatur haben den Lackmustest eben nicht bestanden. Sie haben die entgleiste Sprache nicht thematisiert, sie nicht benannt und gerade nicht das selbst auferlegte „Wehret den Anfängen“ ernst genommen, was mich, ehrlich gesagt, besonders erschüttert hat. Sondern sie haben sich vielfach auf die Seite der Macht, nein, unter die Fittiche der Macht gestellt.
Die Protagonistinnen und Protagonisten der Kunst- und Literaturszene werden für immer damit leben müssen: Die Kunst, insbesondere die Literatur, hat in diesen nun fast drei Jahren ihre Widerstandsimpotenz mit ihrem Schweigen und ihrem Konformismus, mit ihrer Feigheit und Heuchelei ungeschönt für die ganze Gesellschaft offenbart.“
Jan David Zimmermann, aus „Lethe. Vom Vergessen des Totalitären. Politische Essays 2021-2022“
Jan David Zimmermann ist Schriftsteller, Journalist und Wissenschaftsforscher sowie Leitender Redakteur des Stichpunkt Magazins.