Die tieferen Gründe für die Corona-Exzesse
Die tieferen Gründe für die Corona-Exzesse
Norbert Häring | 22.11.2023 | 8 Minuten

Die tieferen Gründe für die Corona-Exzesse und für die Weigerung, daraus zu lernen - Norbert Häring

Die Aufarbeitung des Abgleitens der Gesellschaft in schlimmsten Autoritarismus, Intoleranz, Diskriminierung, Misshandlung von Kindern und gesundheitliche Schädigung vieler Menschen durch die Corona-Maßnahmen bedarf dringend der Aufarbeitung. Die Bereitschaft dafür ist allerdings in weiten Teilen der Gesellschaft gering. Denn zu hinterfragen gefährdet nichts weniger als das vorherrschende Welt- und Selbstbild, das diese Exzesse begünstigt hat. Um so wichtiger ist es, eine attraktive Alternative zu diesem anzubieten.

Eine oft gehörte und vordergründig plausible Erklärung dafür, dass unsere Gesellschaft den Mantel des Schweigens und Vergessens über die Corona-Exzesse ausbreiten will, lautet, dass zu viele bereitwillig mitgemacht hätten, beim von oben geschürten Hass auf Nichtgeimpfte und Maßnahmenkritker, und dabei, Kindern und Jugendlichen Angst einzujagen, ihnen den ganzen Tag Masken aufzuzwingen und sie am Kontakt mit Gleichaltrigen zu hindern, beim Einsperren und Isolieren der Alten und Sterbenden und vielen weiteren Grausamkeiten, die man sich bis 2020 in unserer Gesellschaft nur schwer vorstellen konnte.

Aber so richtig weit trägt die Erklärung nicht, finde ich. Die Allermeisten könnten sich ohne Verlust ihrer Selbstachtung damit aus der Affäre ziehen, dass sie sagen, sie wurden getäuscht und belogen. Sie könnten deshalb eigentlich um so wütender auf die Täter zeigen und Bestrafung fordern. Aber derartige Anklagen von Getäuschten gegen die Täuscher finden praktisch nicht statt. Der Grund muss tiefer liegen. Es dürfte der gleiche Grund sein, warum überhaupt so viele Menschen mitgemacht und überaus radikale Maßnahmen gutgeheißen haben.

Wichtig ist mir die Einräumung, dass es durchaus Seuchen geben kann, bei denen harte Quarantänemaßnahmen, die rigide durchgesetzt werden, zum Schutz der Bevölkerung unbedingt nötig sind. Zu erklären ist deshalb nur, warum so viele Menschen so leicht und so lange glaubten, dass es sich bei der Corona-„Pandemie“ um so einen Fall handelte, obwohl schon sehr bald sehr vieles dagegen sprach. Im Nachhinein lässt sich eine Pandemie in den Sterblichkeitszahlen nicht entdecken, abgesehen vielleicht von den ganz Alten. Während der Spanischen Grippe 1918, die zu Anfang der Corona-Zeit vielfach als warnendes Beispiel angeführt wurde, war die Übersterblichkeit um ein Vielfaches höher. Es ist also zu erklären, warum die Masse der Bevölkerung so lange den wechselnden Aussagen der als maßgeblich präsentierten Wissenschaftler und der Regierung fast blind vertrauten.

Alleinsein macht verletzlich und abhängig

Vordergründig liegt der Grund darin, dass die Geschichten, die uns erzählt und mit eindringlichen Bildern unterfüttert wurden, starke Gefühle erzeugten, insbesondere die Angst vor existenzieller Bedrohung. Aber warum ließen sich so viele Menschen so leicht in so große Angst versetzen, und woher kam die hohe Bereitschaft, andere Menschen als Bedrohung, gar als Feinde zu sehen und zu behandeln?

Dahinter dürfte die in unserem Kulturkreis und in unserem kapitalistischen Gesellschaftssystem vorherrschende und beförderte Sicht auf den Menschen als fundamental getrennt von seinen Mitmenschen und von der Natur stehen. Mit ersteren steht er in Konkurrenz und fühlt sich nicht selten von ihnen gefährdet und bedroht, weil sie ihm als egoistisch und potentiell gewalttätig präsentiert werden. Die Natur, die wir uns untertan machen, um sie zu kontrollieren und auszubeuten, ist ebenfalls feindselig und gefährlich, sobald wir die Kontrolle  über sie verlieren. Wir sind allein und verletzlich.

Gerade deshalb herrscht ein tiefer Glaube an die Technik und Wissenschaft vor, dass diese uns schützen und dabei helfen, die Natur unseren Zielen zu unterwerfen, uns dadurch Fortschritt ermöglichen, in Form eines vermeintlich von Generation zu Generation immer angenehmeren und sichereren Lebens. Die biblische Aufforderung „Macht Euch die Erde untertan“ bedeutet nichts anders, als dass der Mensch außerhalb der Natur steht. Das steht ebenso wie die Trennung in Gut und Böse in Kontrast zu asiatischen Ideen wie Yin und Yang, der gegenseitigen Bedingtheit und Zusammengehörigkeit der Gegensätze und der Verbundenheit von allem mit allem.

Auch die vom Staat gesetzten und durchgesetzten Regeln des Zusammenlebens sind für jemand mit diesem Gefühlsleben elementar wichtig, um einigermaßen sicher und friedlich mit den latent feindseligen Mitmenschen zusammenleben zu können. Deshalb hat die große Mehrheit mitgemacht bei der Durchsetzung von Regeln, die die Mitmenschen als Bedrohung behandelt haben, die man fernhalten muss, und von denen man sich fernhalten muss. Sich auf deren Selbstwahrnehmung als gesund und deren guten Willen zu verlassen, kam nicht in Frage.

Gute Menschen, böse Menschen

Wir dagegen, das gehört zu unserem Selbstbild und ist uns sehr wichtig, gehören zu den Guten. Sechzehn Jahrhunderte Christentum als Staatsreligion haben in unserem Kulturkreis die Unterscheidung in gute Menschen und böse Menschen tief verankert. Entsprechend beurteilt wird nicht die Tat, sondern der Mensch. Auch das steht in Kontrast zu asiatischen Philosophien, nach denen immer beides zusammengehört und sich gegenseitig bedingt.

Es gibt fast keinen Hollywood-Film, in dem es nicht um den Kampf von Gut gegen Böse geht. Die Guten kämpfen gegen die Bösen. Wenn sie am Ende gewinnen und die Bösen vernichten, ist damit auch das Böse vernichtet und die Welt ist besser geworden, oder wenigstens ihr Abgleiten ins Chaos nochmal verhindert. Die Krimis, mit denen unsere Fernsehabende geflutet werden, haben das gleiche Gut-gegen-Böse-Motiv und pflegen das Gefühl der Bedrohung durch unsere Mitmenschen. Bei vielen Märchen ist es nicht anders.

Die Unterteilung in Gute und Böse wird durch das moderne atomistische Menschenbild befördert, das von gegebenen Charakteren und Präferenzen ausgeht, anstatt diese als durch Erziehung und Gesellschaft geformt und formbar zu betrachten, anstatt Menschen als ein Geflecht von Beziehungen zu anderen Menschen und ihrer Umwelt zu verstehen.

Das vorherrschende Welt- und Gesellschaftsbild ist mechanistisch im Sinne der physikalischen Gesetze, wie sie bis vor etwa 100 Jahren galten, bis zur Revolution durch die Quantenphysik, die allerlei Unschärfen und Unbestimmtheiten offenbarte. In diesem seit der Aufklärung vorherrschenden Weltbild gilt immer noch, dass die Welt im Prinzip berechenbar und damit auch kontrollierbar ist. Man kann sich die Natur und die Gesellschaft wie Maschinen vorstellen, deren Einzelteile nach dem Prinzip von Kraft und Gegenkraft zusammenwirken. Nicht vorgesehen ist in diesem Weltbild, dass Organismen, Ökosysteme und Gesellschaften mehr sind als die Kombination ihrer Einzelteile, dass sie eine Selbstorganisationsfähigkeit haben, die wir nur selbständig denkenden und planenden Lebensformen zubilligen.

Deshalb verfielen so viele dem von oben propagierten Glauben, dass wir ohne drastische Maßnahmen und gentechnische Behandlung dem sicheren Verderben anheimfallen würden und behandelten diejenigen, die für das über Jahrtausende entwickelte Vertrauen warben, dass unser Organismus und die Gesamtheit der menschlichen Organismen bald lernen würden, mit dem neuen Virus umzugehen, als Quacksalber und gemeingefährliche Verbreiter von Fake News.

Nur weil Wissenschaft und Technik so produktiv sind und weil der Staat in der Gesellschaft für Ordnung sorgt, ist unsere Welt im Großen und Ganzen gut, so wie sie ist, auf jeden Fall viel besser, als sie früher war, als Wissenschaft und Technik noch nicht so weit und die Regierungskunst noch nicht so demokratisch und aufgeklärt war.

Ein Virus bedroht ein Weltbild

Mit dem neuartigen Coronavirus tauchte eine unsichtbare Gefahr von außen auf, die als ungeheuer bedrohlich dargestellt wurde, und gegen die der Organismus mutmaßlich kein Mittel hatte. Das machte existenzielle Angst. Diejenigen, die diese Angst verspürten, waren zur Bewältigung darauf angewiesen, darauf zu vertrauen, dass die Wissenschaft es schaffen würde, dieses Virus unter Kontrolle zu bekommen, und dass bis dahin eine treusorgende Obrigkeit die richtigen Maßnahmen ergreifen würde, um die Seuche einzudämmen.

Wer sich nicht an die mutmaßlich von „der Wissenschaft“ als wirksam identifizierten und deshalb vom Staat verfügten Schutzmaßnahmen hielt, wurde dadurch zu einer existenziellen Bedrohung, gefühlsmäßig nicht weniger als ein Räuber und Mörder. Er gehörte zu den Bösen, die zu bekämpfen waren, damit die Welt bewohnbar bleibt und nicht dem tödlichen Virus zum Opfer fällt. Wer tat, was verordnet wurde, um uns und unsere Mitmenschen zu schützen, gehörte zu den Guten.

Wer anzweifelte, dass „die Wissenschaft“ die Fähigkeit und die richtigen Rezepte hatte, das Virus zu kontrollieren, machte sich der schweren Moralzersetzung schuldig. Er verbreitet Hoffnungslosigkeit, wo es ohne Hoffnung nicht ging. Dasselbe galt für Zweifler an der Weisheit und Angemessenheit der vermeintlich wissenschaftlich abgesicherten, staatlichen Maßnahmen.

Dass die Wissenschaft ratlos und die Politik planlos war, konnte nicht sein, weil es nicht sein durfte, weil die Angst sonst nicht auszuhalten war.

Wer existenzielle Angst hat, achtet nicht auf Nuancen. Dem ist es egal, ob der Rettung verheißende Impfstoff vernünftig getestet wurde, und wie genau die Ergebnisse aussahen. Die Frage nach der Verhältnismäßigkeit der Mittel erübrigt sich, denn die Gefahr ist so groß, dass Verhältnismäßigkeit bei allem gegeben ist, was helfen könnte. Die Beweggründe der Skeptiker können fast nur schändlich sein, weil deren Handeln so gemeingefährlich und schädlich ist, dass es durch kein Motiv gerechtfertigt werden kann.

Hier weiterlesen.

Norbert Häring ist Ökonom, Wirtschaftsjournalist und Autor von Büchern wie "Endspiel des Kapitalismus".

Author Placeholder

ein Artikel von

Norbert Häring

Teile deine Meinung auf