„Geschichten führen uns zusammen. Nicht erzählte Geschichten trennen uns.
Wir bestehen aus Geschichten – solchen, die abgeschlossen sind, noch andauern oder erfunden werden, mithilfe von Wörtern, Bildern, Träumen und dem unaufhörlichen Staunen über die Welt.
Ungeschminkte Wahrheiten, intimste Gedanken, Erinnerungsfragmente, nie geheilte Wunden. Wer seine eigene Geschichte nicht erzählen darf, zum Schweigen gebracht und ausgeschlossen wird, den beraubt man seiner Menschlichkeit. Das trifft die gesamte Existenz. Der eigene Verstand, die Gültigkeit der eigenen Interpretation von Ereignissen, wird infrage gestellt, und eine tiefe, existenzielle Angst wird geschürt.
Wenn wir die eigene Stimme verlieren, stirbt etwas in uns.“
aus: „Hört einander zu!“, Elif Shafak (Originaltitel: How to Stay Sane in a World of Division)
"Mehr als die Hälfte der Bewohnerinnen und Bewohner demokratischer Länder gibt an, ihre Stimme werde nie oder selten gehört, so schreibt die 1971 in Straßburg geborene Schriftstellerin und Aktivistin für Gleichstellung und freiheitliche Werte. Wenn diese Stimmung schon in relativ demokratischen Staaten vorherrscht, um wie viel höher muss der Prozentsatz erst in autoritären Regimen liegen und was folgt daraus? Wer das Gefühl habe, so Shafak, dass seine Stimme, seine Geschichte nichts zähle, wird weniger bereit sein, anderen zuzuhören, schreibt Shafak in ihrem Essay.. Hören wir anderen nicht mehr zu, taumeln wir nur noch in unserer eigenen Meinungsblase, lernen nichts mehr dazu, schauen in unser eigenes Spiegelbild, scrollen nur noch durch News, die wir lesen wollen - eine erstickende, narzisstische Welt."
Kerstin Böttcher über "Hört einander zu"!" in Radio Bayern