Kriegsopfern eine Stimme geben
Kriegsopfern eine Stimme geben
William Ury | 14.06.2023 | 2 Minuten

„Die letzten 40 Jahre konnte ich als neutraler Verhandlungsberater bei Kriegen und Konflikten überall auf der Welt immer wieder verfolgen, wie tief die Auswirkungen kollektiver Traumata reichen ...
Eine große Frage stellte sich mir dabei immer wieder: Was ist am Frieden so schwierig, wenn er doch eigentlich für alle von so großem Nutzen ist, zumal wenn man bedenkt, welche gewaltigen Verluste der Krieg für alle direkt Beteiligten und ihre Bevölkerung zwangsläufig mit sich bringt?
Es gibt viele Gründe, aber einer der wichtigsten besteht in tieferliegenden kollektiven Traumata, die nicht angesprochen werden. Im kolumbianischen Bürgerkrieg sind über zweihunderttausend Menschen umgekommen und über sieben Millionen verloren ihre Heimat ... Nicht verheilte Wunden bilden offenbar eine Art Antrieb zur Wiederholung des gleichen Konfliktmusters.

Eine geradezu historische Neuerung beim Kolumbianischen Friedensprozess bestand darin, dass man Angehörige der Zivilbevölkerung, also die eigentlichen Leidtragenden, an den Verhandlungen beteiligte. Zahlreiche Delegationen von Kriegsopfern wurden nach Havanna eingeladen, um gegenüber den Unterhändlern beider Seiten Aussagen über ihre Erlebnisse zu machen, die auch von den Medien und von der Kolumbianischen Gesellschaft aufgenommen wurden. Bei der Auswahl dieser Personen durch die UN sowie durch nationale Universitäten wurde darauf geachtet, dass sie alle Konfliktparteien repräsentierten. Es waren viele, vielleicht sogar mehrheitlich Frauen. Zur Überraschung vieler Beobachter, die
ein Aufbrechen alter Wunden und die Behinderung des Friedensprozesses aufgrund dieses Experiments befürchteten, forderten die allermeisten Opfer keine Strafen, sondern sprachen sich für die Beendigung des grausamen Konflikts aus und zeigten sich offen, ihren Feinden zu vergeben und sich mit ihnen auszusöhnen.


So bekamen die Opfer des Kriegs eine Stimme und fanden Gehör und öffentliche Aufmerksamkeit für das Trauma, das hier vorlag. Dadurch besannen sich die Unterhändler auf das, worum es ging, und die kolumbianische Gesellschaft bekam die Gelegenheit, dem langwierigen Prozess der Heilung alter Wunden endlich seinen Lauf zu lassen.“

William Ury, Verhandlungsexperte,
aus dem Vorwort zu „Kollektives Trauma heilen“, Thomas Hübl

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William Ury

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