Mehr Macht dem Volk
Mehr Macht dem Volk
Susanne Wolf | 24.07.2023 | 4 Minuten

Mehr Macht dem Volk

Immer mehr Menschen erkennen, dass Wahlen nicht ausreichen, um an politischen Entscheidungen teilzuhaben. Die Forderung nach mehr Mitbestimmung wächst.

Die Corona-Krise zeigte, dass in Zeiten umstrittener Regierungsentscheidungen die Demokratie innerhalb der Gesellschaft aufblüht. Während der vergangenen drei Jahre stieg die Zahl der Volksbegehren und Petitionen, Vereine wurden gegründet, Demonstrationen und Aktionen angemeldet. Menschen setzten sich mit Grundrechten auseinander und vernetzten sich. Ein Beispiel: Nie zuvor wurden in Österreich Gesetzesänderungen von so vielen Menschen beeinsprucht und kommentiert wie während der Pandemie.

Demokratie in Gefahr

Der Demokratiebericht des Varieties of Democracy Institutes der Universität Göteborg stufte Österreich zu Beginn 2022 von einer liberalen Demokratie zu einer Wahldemokratie herunter. Das bedeutet, dass sich die demokratische Partizipation der Bevölkerung auf das Abgeben einer Stimme bei Wahlen beschränkt und das Volk an demokratischen Prozessen kaum beteiligt ist. „Gründe dafür sind gleichgeschaltete Medien, reduzierte Gewaltenteilung sowie Angriffe auf die Justiz“, erklärt Erwin Mayer, Sprecher der Plattform Mehr Demokratie, die sich für die Stärkung direkter Demokratie einsetzt. „Weltweit geht der Anteil an demokratischen Staaten zurück“, ergänzt Mayer. „Derzeit leben mehr Menschen in Autokratien als in Demokratien – Tendenz stark steigend“. Ausnahmen seien skandinavische Staaten oder die Schweiz, die Mayer zu den demokratischsten Staaten weltweit zählt.

Bereits im Mittelalter entwickelten sich in abgelegenen Schweizer Alpentälern, auf die die Herrschenden wenig Einfluss hatten, eigenständige Demokratien. „Dorfgemeinschaften trafen Entscheidungen, die dann auch umgesetzt wurden“, erklärt Erwin Mayer. „Bis heute gibt es in der Schweiz Landsgemeinden, wo es so gehandhabt wird.“ 1850 wurde die Volksabstimmung in die Schweizer Verfassung geschrieben, auch als Folge von Aufständen der Zünfte und Arbeiterklasse. Heute belegt das Land den ersten Platz bei der aktiven politischen Mitbestimmung der Bürger, Hauptinstrumente sind Volksinitiative und Referendum. „Die Habsburger hatten in der Schweiz nur wenig Einfluss“, ergänzt Mayer, „während viele Österreicher bis heute das Untertanentum verinnerlicht haben.“

Bürger wollen mehr Mitbestimmung

Im September 2021 wurde in Österreich der erste bundesweite Bürgerrat zum Thema Demokratie durchgeführt. Er zeigte ein klares Bild: Bürger wollen und sollen besser eingebunden werden. Solange Bürgerräte nur konsultative, sprich beratende, Funktion haben, ist ihre Wirksamkeit jedoch gering. Das war etwa beim Klimarat der Fall, der zwar Empfehlungen an die Regierung aussprach, aber letztendlich keine politischen Veränderungen bewirkte. „Die Teilnehmer waren zurecht enttäuscht, sie bekamen bei ihrem Besuch im Eu-Parlament in Brüssel mehr Reaktionen als von der heimischen Politik“, so Mayer. Als Vorbild nennt er losbasierte Bürgerräte im alten Athen, Wahlen wurden dort als nicht demokratisch betrachtet. Machthungrige, manipulative Personen würden unweigerlich ins Amt aufsteigen – so der Konsens der Athener.

Wahlen reichen nicht aus

Dass die Mächtigen und Eliten dieser Welt kein Interesse an Demokratie im Sinne von Teilhabe des Volks haben, davon ist der Wahrnehmungspsychologe Rainer Mausfeld überzeugt. In seinem Buch „Warum schweigen die Lämmer?“ bezeichnet er die repräsentative Demokratie sogar als Mittel zur Verhinderung von Demokratie. „Wahlen sind also nur ein vergleichsweise nebensächlicher Aspekt der demokratischen Willensbildung“, schreibt Mausfeld. „Von den jeweiligen Machteliten werden sie jedoch gerne – unter Vernachlässigung und Missachtung entscheidender Kernelemente der demokratischen Leitidee – in den Vordergrund gestellt, weil sie besonders geeignet sind, im Volk eine Illusion von Demokratie und von Volkssouveränität zu erzeugen.“ Alternativen wie partizipatorische Demokratie seien in der öffentlichen Diskussion praktisch nicht präsent. „Diese Unsichtbarkeit von ernsthaft demokratischen Alternativen ist selbst wiederum Folge einer jahrzehntelangen Indoktrination, in der die Form einer repräsentativen Demokratie nicht nur als beste Form von Demokratie vermittelt wird, sondern auch als alternativlos..“, schreibt Mausfeld in „Warum schweigen die Lämmer?“

Proteste und Partzipation

Dennoch kommt Bewegung in demokratische Prozesse, weltweit stehen Menschen für ihre Rechte auf.

  • In Indien zog die Regierung nach Massenprotesten der Bevölkerung eine umstrittene Agrarreform zurück, die die Lebensgrundlagen von Millionen Kleinbauern zerstört hätten.
  • In Deutschland setzt sich mehr-demokratie.de, die größte Nichtregierungsorganisation für direkte Demokratie weltweit, für mehr Bürgerbeteiligung ein.
  • In Ecuador stimmte die Regierung nach landesweiten Streiks den Forderungen von indigenen Vertretern zu, neue Öl- und Gasbohrungen in indigenen Gebieten und Wasserversorgungsgebieten zu stoppen und gab ihnen ein Vetorecht über zukünftige Projekte. Auch in Kolumbien streiten Indigene für ihre Rechte, wenn es um Landnutzung, Gesundheitsversorgung oder Bildung geht.
  • Mehr als 1500 Städte, von New York bis Mexiko City, haben bereits einen partizipativen Haushalt eingeführt - die Bürger entscheiden mit, wofür das Geld ausgegeben wird. Rutger Bregman schreibt dazu in seinem Buch „Im Grunde gut“: „Tatsächlich sprechen wir hier über eine der größten Bewegungen des 21. Jahrhunderts – und dennoch ist die Chance groß, dass Sie noch nie davon gehört haben.“

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