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Fabian Scheidler: Herr Wallerstein, wir haben uns vor vier Jahren in Dakar im Senegal getroffen und über die wachsende Instabilität des kapitalistischen Weltsystems gesprochen. Befinden wir uns auf dem Weg in eine immer größere globale Instabilität, und wenn ja, warum?
Immanuel Wallerstein: Ja, wir befinden uns definitiv auf dem Weg in eine immer größere globale Instabilität. Warum das so ist? Wir erfahren einen systemischen Wandel, wir stecken in einer systemischen Krise des kapitalistischen Weltsystems, das auseinanderfällt und tatsächlich sterben wird. Wir stecken mitten in einer Übergangsphase von insgesamt vielleicht 60 bis 80 Jahren.
Fabian Scheidler: In ihrer wissenschaftlichen Analyse sprechen Sie von einem 500 Jahre alten System, das seinem Ende entgegengeht. Was genau geht da zu Ende und welche Perspektiven entstehen dadurch?
Immanuel Wallerstein: Es handelt sich um ein System, das auf der unaufhörlichen Anhäufung von Kapital beruht. Um Kapital anzuhäufen, muss man Profite mittels produzierender Unternehmen erzeugen. Es ist eine Tatsache, dass die Kosten der Produktion so stark gestiegen und die Möglichkeiten auf der Nachfrageseite so stark gesunken sind, dass es kaum noch funktioniert, Profite zu generieren, und folglich kaum noch Kapitalakkumulation stattfindet.
Schon immer waren viele Menschen mit dem kapitalistischen System unzufrieden, aber nun gibt es – zusätzlich zu dieser Unzufriedenheit an der Basis – die Einsicht seitens der Kapitalisten selbst, dass es sich nicht mehr lohnt, dass sie kein Kapital mehr anhäufen können. Und deshalb wird die Frage laut, mit welchen alternativen Instrumenten sie ihren Wohlstand, ihre Macht und ihre Privilegien sichern können.
Wir haben eine Situation, in der – aus den verschiedensten Gründen – eigentlich keine der beiden Seiten mehr die Weiterführung des Systems wünscht, und die Frage, die sich uns aufdrängt, heißt nicht: »Mögen wir das System oder mögen wir dieses System nicht?«, sondern: »Welches System soll das herrschende System ersetzen?«
Fabian Scheidler: Die Behauptung, dass eine Kapitalakkumulation nicht länger möglich sei, klingt ein wenig ungewohnt, wenn man sich ansieht, welche riesigen Profite Firmen wie Apple oder Exxon Mobil erzielen.
Immanuel Wallerstein: Natürlich, sie machen hohe Profite, aber der springende Punkt, um den es hier geht, ist nicht das sogenannte Wachstum, für das Apple ein gutes Beispiel ist. Der springende Punkt, den man im Auge haben sollte, ist die Beschäftigung, und zwar der weltweite Stand der Beschäftigung. Und global steigt die Arbeitslosigkeit ununterbrochen.
Unternehmen, die heutzutage in Bereichen aktiv sind, wo noch viel Geld zu machen ist, beschäftigen nicht viele Menschen. Das nutzt dem einzelnen Unternehmen, aber es bedeutet, dass es niemanden mehr gibt, der die Produkte auch kaufen kann, und darin besteht das eigentliche Problem. Wenn niemand mehr die Produkte kaufen kann, ist es sinnlos, Geld in die Produktion zu stecken. Und so erklärt sich der allgegenwärtige Druck, der nicht weniger wird, sondern wächst und wächst.
Fabian Scheidler: Sie sagen, dass der Kampf um ein Nachfolgesystem oder Nachfolgesysteme bereits begonnen hat. Wer beteiligt sich an diesem Kampf und welche Optionen gibt es, mit welchen Ergebnissen ist zu rechnen?
Immanuel Wallerstein: Es gibt in der Tat nur zwei theoretisch mögliche Ergebnisse. Das eine besteht darin, ein neues, nicht-kapitalistisches System zu schaffen, das aber dennoch die schlimmsten Eigenschaften des Kapitalismus bewahrt: Hierarchie, Ausbeutung und eine ruinöse Ungleichheit.
Die zweite Option ist das völlige Gegenteil. Sie würde bedeuten, zum ersten Mal in der Geschichte ein verhältnismäßig egalitäres und demokratisches System zu errichten. Das also sind die beiden Möglichkeiten. Und darüber ist der Kampf entbrannt, auch wenn viele Menschen nicht begreifen, dass es darum geht.
Zu Ihrer zweiten Frage: Wer beteiligt sich an diesem Kampf? Die meisten Menschen begreifen nicht, dass sie sich in diesem Kampf befinden. Es gibt aber kleine Gruppen auf beiden Seiten, die sich sehr wohl darüber bewusst sind und versuchen, die Menschen zu mobilisieren.
Wenn ein System normal funktioniert, haben wir ein relativ deterministisches System. Man kann versuchen, es in radikaler Weise zu verändern, doch am Ende erreicht es wieder einen ausgeglichenen Zustand. Dies ist zwar ein bewegliches Gleichgewicht, aber eben doch ein Gleichgewicht.
Wenn wir uns aber in einer Übergangsphase zwischen zwei Systemen befinden, also in einer strukturellen Krise, dann haben wir ein freies System. Auch die kleinste Bewegung eines und einer jeden beeinflusst das System in deutlicher Weise.
Fabian Scheidler: Sie unterscheiden zwischen einem »Geist von Davos« und einem »Geist von Porto Alegre«. Erklären Sie, was Sie damit meinen …
Immanuel Wallerstein: Ich benutze diese Sprache, um die beiden Richtungen zu beschreiben, die man an dieser historischen Wegkreuzung einschlagen kann. Der »Geist von Porto Alegre« – das war der Austragungsort des ersten Weltsozialforums – zielt auf eine verhältnismäßig demokratische und egalitäre Welt. Der »Geist von Davos« dagegen – also des Weltwirtschaftsforums – beschreibt die Geisteshaltung, die nach einer Struktur sucht, in der die Vorteile der privilegierten Minderheit des alten Systems mit neuen Mitteln wiederhergestellt werden sollen. Dies könnte noch weit schlimmer ausfallen als das gegenwärtige negative System. Es wird auf jeden Fall keine Besserung bringen.
Fabian Scheidler: Können Sie etwas zu den inneren Aufspaltungen der »Davoser« Richtung sagen?
Immanuel Wallerstein: Es gibt in beiden Lagern jeweils zwei Strategien, die miteinander im Streit liegen. Im Lager der »Davoser« gibt es einen Richtungsstreit zwischen denen, die die Technik der gewaltsamen Unterdrückung bevorzugen und denen, die die Technik der Verführung durch Pseudoreformen favorisieren, die für die Menschen des anderen Lagers möglicherweise attraktiv sein könnten. Das Lager von »Porto Alegre« dagegen ist gespalten zwischen den Horizontalisten und den Vertretern eines wiederbelebten Vertikalismus.
Horizontalismus bedeutet, dass man systemkritische Bewegungen der unterschiedlichsten Art versammelt. Man hört sich gegenseitig zu und redet miteinander und versucht, voneinander zu lernen, aber man erschafft keine einheitliche Struktur mit innerer Hierarchie. Man unterstützt sich wechselseitig, um eine größere Schubkraft zu haben.
All dies ist gut, all dies bewirkt etwas. Dabei wird nicht versucht, eine vertikale [hierarchische; d. Brennstoff] Struktur zu etablieren, denn diese würde unweigerlich dazu führen, bestimmte Bewegungen, die eine solche ausformulierte vertikale Strategie nicht unterschreiben, auszuschließen. So ist die alte Linke gewöhnlich vorgegangen, was zu fortgesetzten Brüchen in den verschiedenen Bewegungen geführt hat.
Ihre Frage nach der Alternative? Ja, ich denke, es ist der Horizontalismus, aber man muss die Leute noch überzeugen.
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Textauswahl & Redaktion: Andreas Wagner (Brennstoff)
Das Interview ist in voller Länge zu lesen in: David Goeßmann / Fabian Scheidler (Hg.): Der Kampf um globale Gerechtigkeit. Promedia Verlag 2019
Artikelfoto: Occupy Wall Street, New York City, Nov. 2011:
(Agenturfoto: © MIKE SEGAR / REUTERS / picturedesk.com)