Europa trägt Schuld an der Misere Afrikas – bis heute. Ein Gespräch über die Gründe mit der Anwältin, Aktivistin und Gründerin des »People’s Parliament« („Parlament des Volks“) in Kenia, Wangui Mbatia, die vor drei Jahren, noch jung, verstarb.
Ein Gespräch mit Wangui Mbatia
Ein Interview von Fabian Scheidler u. David Goeßmann
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Fabian Scheidler: In Europa wird selten über die tiefergehenden Ursachen für die Armut in afrikanischen Ländern gesprochen, insbesondere wenn es um die Verantwortung der einstigen europäischen Kolonialmächte geht. Können Sie über die Rolle Europas und des Westens sprechen?
Wangui Mbatia: Es ist schwierig für Europa, die Armut in Afrika zu diskutieren, ohne sich schuldig zu fühlen. Es ist eine Tatsache, dass geschichtlich ein großer Teil Europas mit Hilfe von Ressourcen aus Afrika aufgebaut wurde. Einige Teile Europas, besonders Länder wie Belgien, waren die Nutznießer des Diebstahls in Afrika während der Kolonialzeit. Und da gab es ein ungeheures Ausmaß an Raub und Grausamkeit gegenüber den Afrikanern. Ich denke, das ist ein Grund, weshalb die Diskussion in Europa nicht sehr offen geführt wird.
Sollte man tatsächlich anfangen, offen darüber zu reden, müsste zum Beispiel Belgien einen Großteil seines Reichtums, den König Leopold II. gestohlen hat, an den Kongo wieder abtreten. Und das ist nur ein Beispiel unter vielen. Das Problem für Afrika ist, dass der Diebstahl immer noch weitergeht. Was der belgische König damals mit dem Kautschuk gemacht hat, machen andere nun mit dem Öl – in Nigeria, im südlichen Teil Afrikas, im Sudan. Ich denke, die Politik vieler westlicher Länder ist es, Afrika nicht in den Blickpunkt zu rücken, weil man sonst einige der schlechten Praktiken, von denen man profitiert, aufgeben müsste.
Wangui Mbatia: Viele Länder in Afrika haben auch eine Menge Schulden geerbt, am Ende der Kolonialzeit, Schulden gegenüber den Kolonialregierungen, von denen sie abhängig gewesen waren. In meinem Land zum Beispiel vereinbarte die britische Regierung Abkommen mit der neuen unabhängigen Regierung. Britische Siedler und Farmer mussten danach entschädigt werden. Letztendlich musste Kenia also Geld leihen, um die britischen Siedler zu entschädigen und das ist immer noch der Fall. Ein Großteil der afrikanischen Länder war also bereits verschuldet, als sie unabhängig wurden.
Dann gab es eine Zeit in Kenia, als die Regierung sich stark verschuldete, um die Entwicklung voranzutreiben. Ungefähr zehn Jahre lang lieh sich Kenia Geld von den sogenannten Bretton-Woods-Institutionen, also der Weltbank und dem IWF, ohne darüber nachzudenken. Die Kredite wurden in den 1960er- und frühen 1970er-Jahren für einen Zeitraum von zehn bis fünfzehn Jahren vergeben. Der damalige Präsident musste sich also in seiner Amtszeit nicht mit der Rückzahlung auseinandersetzen, er konnte das Geld einfach leihen und es für sich selbst verwenden. Der Präsident ging einfach zur Weltbank und sagte: »Ich will eine weitere Eisenbahnstrecke bauen«, nahm das Geld, baute die Strecke aber nie. Wir bezahlen in Kenia Schulden an die Weltbank zurück für drei Eisenbahnstrecken, die nie gebaut wurden.
Wangui Mbatia: Regierungen in Ländern wie Kenia fanden sich schließlich unter so vielen Schulden begraben, dass sie nicht in der Lage waren, die Schulden zurückzuzahlen. Zu dieser Zeit ließ sich der „Internationale Währungsfond“ (IWF) etwas Kreatives einfallen, das den Namen »Strukturanpassungsprogramm« erhielt. Regierungen waren nun verpflichtet, sich an die globalen Märkte »anzupassen«, um zahlen zu können.
Für die Entwicklungsländer bedeutete dies, dass grundlegende öffentliche Dienstleistungen im Gesundheitswesen, im Bereich Bildung, im öffentlichen Verkehr nicht länger frei zugänglich waren. In Kenia sagte man uns, es ginge um eine Kostenbeteiligung, sie würden die Kosten für das Gesundheitswesen aufteilen. Dann sagten sie uns schließlich, wir würden an den Kosten der Universitätsbildung beteiligt, und jedes Jahr wurden die Kosten für die Bürger größer und größer. Bis zu dem Punkt, an dem wir uns mehr beteiligen mussten, als wir konnten. Wir bezahlen jetzt nicht nur für Krankenhäuser, sondern auch für wichtige Medizin, und das bedeutet natürlich, dass arme Mensehen, die über keine zusätzlichen Mittel verfügen, diese notwendigen Dienstleistungen nicht mehr erhalten.
Wangui Mbatia: In den 1990er-Jahren hatten die Strukturanpassungsmaßnahmen fatale Folgen. Bildung wurde schlicht unzugänglich für arme Schüler, weil sie Schulgeld bezahlen mussten. Um das Ausmaß dieser Katastrophe zu verstehen, muss man in das Jahr 2003 zurückschauen. Damals hatten wir eine andere Regierung, die wieder kostenlose Grundschulbildung durchsetzte. In einem Jahr wurden eineinhalb Millionen Schüler neu eingeschult. Und das bedeutet, dass vorher mehr als eine Million Schüler nicht zur Schule gehen konnten, weil es zu teuer war.
Wangui Mbatia: Aber die schlimmste Konsequenz der sog. „Kostenbeteiligung“ ist, dass öffentliche Krankenhäuser keine Medizin oder andere Ausstattung mehr haben. Die Reichen gehen in Privatkrankenhäuser, aber für arme Leute bedeutet es, dass sie keinen Zugang zu einer gesundheitlichen Versorgung haben. Die Gebäude sind vorhanden, aber da es kein Geld gibt, gibt es keine Medizin und kein Personal. Eine der direkten Konsequenzen des Strukturanpassungsprogrammes ist es also, dass mehr Menschen an vermeidbaren und heilbaren Krankheiten sterben.
Wangui Mbatia: Die Kosten einer Universitätsausbildung in Kenia sind im Moment dreimal so hoch wie die in Deutschland, und das für eine Bevölkerung, die viel weniger verdient als die Deutschen. Und das gilt für die normalen staatlichen Unis, nicht für die privaten. Wenn man also arm ist, kann man, selbst bei guten Noten, nicht zur Universität gehen, da man es sich nicht leisten kann. Wir haben eine Menge verloren.
Fabian Scheidler: In den vergangenen Jahren haben private Konzerne und auch verschiedene Staaten in großem Stil in afrikanischen Staaten Land aufgekauft. Viele Nichtregierungsorganisationen sprechen von »Land Grabbing« oder Landraub. Was ist damit gemeint? Und welche Rolle spielt es in Kenia?
Wangui Mbatia: Eine der verheerendsten Umstände, mit denen wir umgehen müssen, ist die Tatsache, dass reiche Länder unser fruchtbarstes Land aufkaufen. Allein im Jahr 2010 haben wir in Kenia über 150.000 Hektar Land an Katar verloren. Katar will in Kenia Gemüse anbauen. Und zur gleichen Zeit, als Kenia Land für den Gemüseanbau an Katar abtrat, bettelte der Staat um Nahrungsmittelhilfen, weil Kenianer verhungerten. Das ergibt keinen Sinn.
Wir haben es zunehmend mit Regierungen zu tun, die afrikanische Staaten dazu zwingen, Land für europäische Interessen freizugeben. So zum Beispiel das Solarstromprojekt Desertec. Es soll Solarenergie für Europa produzieren. Aber warum wird die Wüste nicht genutzt, um Energie für Afrika herzustellen? Wir brauchen die Energie schließlich auch. Dieses Denken, dass Afrika ein Kontinent ist, in dem man sich einfach nimmt, was man braucht, besteht bereits seit Jahrhunderten. Diesem Denken müssen wir Einhalt gebieten.
Ein weiteres Beispiel: In Kenia beuten Firmen unser Wasser aus, um Blumen anzubauen, zur selben Zeit, in der wir keine Nahrung haben. Wir produzieren in Kenia 31 Prozent der Blumen, die auf den europäischen Märkten verkauft werden, während unsere hungernde Bevölkerung sich nichts zu essen mehr leisten kann. Und das geht immer so weiter.
Außerdem haben wir jetzt eine zweite Krise: Unsere natürlichen Ressourcen werden zunehmend patentiert und so außerhalb unseres Landes gebracht. So haben wir beispielsweise das Recht an unserer eigenen traditionellen Pflanzenmedizin verloren. Es gibt einen Baum in meinem Dorf mit dem medizinischen Namen prunus africanus, und eine französische Firma besitzt das Recht, daraus Medizin für Prostatakrebs zu machen. Als Ergebnis ist es jetzt unmöglich für uns, diesen Baum zu nutzen.
David Goeßmann: Die EU hat mit vielen afrikanischen Staaten sog. »Economic Partnership Agreements« (EPAs) [Abkommen für Wirtschaftspartnerschaft; d. Brennstoff] verhandelt. Welche Auswirkungen hat die EU-Handelspolitik auf afrikanische Länder, insbesondere auf Kenia?
Wangui Mbatia: Diese sogenannten »Wirtschaftspartnerschaftsabkommen« wurden meines Erachtens falsch benannt, denn sie sind keine Partnerschaften. Die EU-Staaten zwingen die afrikanischen Regierungen, Handelsabkommen abzuschließen, die sehr zu unserem Nachteil sind.
Eine der Voraussetzungen des Partnerschaftsabkommens ist die Öffnung unserer Märkte für europäische Waren. Das Konzept des freien Marktes klingt ja sehr interessant und gut, aber wenn man die Konsequenzen für den Durchschnittsbürger betrachtet, ist es sehr negativ.
Die europäischen Regierungen haben Geld genug, um ihre Landwirte und Produzenten zu subventionieren. Ihre Waren werden billiger, inklusive der Transportkosten. Es ist also möglich, billige europäische Waren auf unseren Märkten einzuführen, was dazu führt, dass unsere Produkte nicht länger wettbewerbsfähig sind. Milch, die nach Westafrika exportiert wird, erzeugt dort bereits eine Krise. In den meisten afrikanischen Ländern kommen mehr als die Hälfte unserer Waren in den Supermärkten aus dem Ausland. Unsere Industrie stirbt, unsere Landwirte kämpfen ums Überleben und unsere Bevölkerung wird zu bloßen Konsumenten reduziert, die keine Rolle mehr im Herstellungsprozess spielen. Auf lange Sicht werden wir so zu versklavten Menschen.
Man kann nicht von einem afrikanischen Bauern erwarten, mit einem deutschen Bauern in Wettbewerb zu treten, der zwei Euro täglich an Subventionen für seine Kuh bekommt. Der afrikanische Bauer lebt von weniger als einem Euro am Tag für seine ganze Familie. Die deutsche Kuh bekommt doppelt so viel wie der afrikanische Bauer.
Unsere Regierungen sind in einer Kultur von Schulden, Entwicklungshilfe und Leid versklavt. Und die europäischen Länder, die europäische Gemeinschaft benutzen alle diese drei Aspekte auf die eine oder andere Weise, um ihre Ziele durchzusetzen. Wenn man sich nicht dem Willen der EU fügt, dann leiht sie den Staaten möglicherweise kein Geld mehr, welches sie für wichtige Dienstleistungen benötigen. Sie geben keine Hilfslieferungen mehr, von denen die afrikanischen Länder abhängig sind. Oder man beschneidet ihre Handelskapazitäten.
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Textauswahl & Redaktion: Andreas Wagner (Brennstoff)
Die Zwischenüberschriften wurden redaktionell eingefügt. – Das Interview ist unter dem Titel „Die Plünderung des afrikanischen Kontinents“ in voller Länge zu lesen in: David Goeßmann / Fabian Scheidler (Hg.): Der Kampf um globale Gerechtigkeit. Promedia Verlag 2019
Artikelfoto: Kiberia, einer der Slums in Kenias Hauptstadt Nairobi
(Agenturfoto: © Karel Prinsloo / Eyevine / picturedesk.com)