Wunder
Wunder
Brennstoff Nr. 59 | Brennstoff Redaktion | 05.02.2024 | 4 Minuten

„Joschi, was tust du denn da? Du bist doch tot!“

Ich bin durch eine Radiosendung zufällig auf diese WUNDERbare Geschichte gestoßen und bin ihr durch verschiedene Medien nachgegangen. Der Radiojournalist sagt zu Erika Freeman „dein Vater war politisch sehr aktiv, er ist dann ins KZ gekommen, er war immer Optimist, und ist durch einen unglaublichen Zufall aus dem KZ herausgekommen“, – sie unterbricht ihn sofort und sagt „der Zufall ist ein Wunder“. „Im Gespräch“, so heißt diese Ö1-Sendung, erzählt die nunmehr 93-jährige Psychoanalytikerin vom freien Assoziieren. So will ich diese Seite ansetzen. Ich beginne mit dem schönen Gedicht von Hilde Domin

Nicht müde werden
sondern dem Wunder
leise
wie einem Vogel
die Hand hinhalten.

Auch Hilde Domin entkam der Judenverfolgung durch Flucht in die Dominikanische Republik. Sie nannte sich nach der Insel, auf der sie Zuflucht ge- funden hatte.

Erika Freeman wurde am 1. Juli 1927 in Wien geboren. Sie musste vor dem Naziregime fliehen. Die Zwölfjährige floh allein und landete in New York. Dort war die kleine Erika lange auf sich selbst gestellt. Sie war in diversen Waisenhäusern untergebracht, bis sie bei ihrem Onkel Unterschlupf fand.

ACHTUNG: JETZT KOMMT DAS WUNDER

„Eines Tages, am Yom Kippur (Versöhnungsfest), dem höchsten jüdischen Feiertag, ging mein Onkel nicht in die Synagoge, sondern er ging spazieren. Da läuft mein Vater aus einem Hotel am Broadway heraus. Sagt mein Onkel zu meinem Vater: „Joschi, was tust du denn da? Du bist doch tot!“ Dieser: „Nein, aber mein Kind ist tot!“ Darauf wieder der Onkel: „Nein, das Kind ist nicht tot, das ist hier.“ Mein Vater war nur einen Tag in New York, am Weg nach Washington. Er suchte mich nicht einmal.“

Es gibt zwei Arten, sein Leben zu leben:
entweder so, als wäre nichts ein Wunder,
oder so, als wäre alles ein Wunder.
Ich glaube an Letzteres.
Albert Einstein

Erikas Vater kam ins KZ Theresienstadt und überlebte durch ein Wunder. Wie? Ein schwedischer Diplomat konnte ihn herausholen, denn er hatte blonde Haare. Drum glaubten die Nazis, er sei ein Schwede.

Erikas Mutter überlebte die Judenverfolgung in Wien, – als U-Boot im Wiener Philipphof. Trotzdem kam sie im Krieg ums Leben. Sie starb am 12. März 1945, vier Wochen vor der Befreiung Wiens, bei der Bombardierung des Philipphofs.

Erika Freeman studierte Psychologie an der Columbia University, wo der aus Wien geflohene Psychoanalytiker und Freudschüler Theodor Reik einer ihrer Lehrer war. Marlon Brando, Marilyn Monroe, Woody Allen u. a. lagen „auf ihrer Couch“. Zur Zeit lebt sie wieder in Wien und arbeitet nach wie vor als Psychoanalytikerin.

Dem „Augustin“ erklärt Erika Freeman die Psychoanalyse so ... (die Fragen stellt Kerstin Kellermann)

Stimmt es, dass die Personen in der Analyse lernen sollen, ihr echtes und wahres Selbst zu entdecken?

Man kennt das Selbst nicht, denn das, was du über dich zu denken gelernt hast, hat damit zu tun, wie man dich behandelt. Selbstbewusstsein kommt viel von deiner Behandlung. Freud meinte, das hat mit Sex angefangen, aber wir leben doch in einer Gesellschaft. Wenn du dich geliebt gefühlt hast, als du klein warst, ist das der größte Schatz, und der wächst immer mit dir. Wenn nicht, ist es sehr schwer. Wenn man eine Großmutter hat, dann fühlt man sich immer geliebt. Das ist für mich die Wurzel der Liebe.

Die Traumatherapie behauptet, dass die Psychoanalyse bei Extremtraumata nicht hilft. Was ist Ihre Erfahrung?

Alle Hilfe hilft. Man darf nur nicht darauf bestehen, dass deine Ideen die einzigen richtigen sind. Was dir hilft, hilft dir. … Jeder hat ein bissl Recht, und jeder hat wahrscheinlich auch ein bissl Schuld. Es gibt keine unschuldigen Menschen. Einer, der glaubt, unschuldig zu sein, ist entweder ein Engel oder er hat eine Illusion.

Ein Wunder geschieht die ganze Zeit, man kann sich darauf verlassen, aber nur wenn du keinen Termin brauchst. Es gibt Sachen, die sind wunderlich oder wunderbar, die bemerkt man nicht einmal im Alltag.

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