„Vieles ist ungeheuer. Aber nichts ist ungeheurer als der Mensch.“(Sophokles)
„Vieles ist ungeheuer. Aber nichts ist ungeheurer als der Mensch.“(Sophokles)
Brennstoff Nr. 59 | Kay Sara | 05.02.2024 | 4 Minuten

Kay Sara, eine Indigene aus dem Amazonas Regenwald, hätte auf der Bühne des Burgtheaters, eines der größten Theater der Welt, folgende Rede halten sollen. „Hätte“, denn die Corona Maßnahmen machten es unmöglich. Wir bringen hier Ausschnitte dieser Rede.

Ich wäre direkt von unseren Proben im Amazonas zu Ihnen gekommen. Ich hätte Antigone gespielt, die sich gegen den Herrscher Kreon auflehnt, der ihren Bruder nicht beerdigen will, weil er als Staatsfeind gilt. Der Chor hätte aus Überlebenden eines Massakers der brasilianischen Regierung an Landlosen bestanden.

Wir hätten diese neue „Antigone“ auf einer besetzten Straße durch den Amazonas aufgeführt – jenen Wäldern, die in Flammen stehen. Diese „Antigone“ wäre kein Theaterstück gewesen, sondern ein Akt des Widerstands: gegen jene Staatsmacht, die den Amazonas zerstört.

Mir geht es gut.

Ich befinde mich im Wald bei meinem Volk, ganz im Norden Brasiliens, am Ufer des Flusses Oiapoque. Die Natur umgibt mich, sie beschützt und nährt mich. Ich lebe im Rhythmus des Gesangs der Vögel und des Regens, und ich führe die Rituale aus, die mich in Kontakt zu meinen Vorfahren bringen.

Ich gehöre zum dritten Clan des Volks der Tariana, des Clans des Donners. Ich bin eine Tochter des Donnergotts, eine Königstochter, wie Antigone. Meine Mutter, eine Tucana, gab mir den Namen Kay Sara. Das bedeutet: „Die sich um andere sorgt“. Von väterlicher Seite bin ich eine Tariana. Wie alle bin ich eine Mischung aus vielem: ich bin Tucana und Tariana, eine Frau, eine Aktivistin, eine Künstlerin … Nun ist es an der Zeit, dass wir selbst unsere Geschichte erzählen.

Unser Unglück begann, als die Spanier und Portugiesen in unser Land kamen. Mit ihnen kamen die Krankheiten zu uns. Millionen starben. Weitere Millionen starben von der Hand der Soldaten und der Geistlichen, im Namen des einen Gottes, im Namen des Fortschritts und des Gewinns. Heute sind nur noch wenige von uns übrig. Ich bin eine der Letzten der Tariana.

(Corona breitete sich aus …) Die Weißen nutzen das Chaos, um noch tiefer in die Wälder einzudringen. Die Feuer werden nicht mehr gelöscht. Von wem auch? Wer den Holzfällern in die Hände fällt, wird ermordet. Und was hat Bolsonaro getan? Das, was er immer getan hat: Er schüttelt die Hände seiner Unterstützer und verspottet die Toten. Er, Bolsonaro, will den Genozid an den Indigenen, der seit 500 Jahren anhält, zu Ende bringen.

Ihr hört uns gern singen, aber ihr hört uns nicht gern reden. Und wenn ihr uns zuhört, dann versteht ihr uns nicht. Das Problem ist nicht, dass ihr nicht wisst, dass unsere Wälder brennen und unsere Völker sterben. Das Problem ist, dass ihr euch an dieses Wissen gewöhnt habt.

Ich sage euch also, was ihr alle wisst: Vor einigen Jahren trockneten die Nebenflüsse des Amazonas zum ersten Mal seit Menschengedenken aus. In zehn Jahren wird das Ökosystem des Amazonas kippen, wenn wir nicht sofort handeln. Das sagen unsere und das sagen eure Wissenschaftler, und vielleicht ist es das Einzige, worin sie sich einig sind. Wir alle werden untergehen, wenn wir nicht handeln.

Zeit zu schweigen, Zeit zuzuhören

Es ist für euch also Zeit zu schweigen. Es ist Zeit, zuzuhören. Ihr braucht uns, die Gefangenen eurer Welt, um euch selbst zu verstehen. Denn die Sache ist so einfach: Es gibt keinen Gewinn in dieser Welt, es gibt nur das Leben.

Und vielleicht ist es das, was mich am meisten beunruhigt, wenn ich Kreon sprechen höre: Er weiß, dass er im Unrecht ist. Er weiß, dass das, was er tut, nicht richtig ist. Dass es seinen Untergang bringen wird, den Untergang seiner Familie, die Apokalypse. Und trotzdem tut er es. Er kritisiert sich selbst, er hasst sich selbst, aber er fährt fort, zu tun, was er hasst.

Dieser Wahnsinn muss aufhören. Hören wir auf, wie Kreon zu sein. Seien wir wie Antigone. Denn wenn Rechtlosigkeit Gesetz wird, wird Widerstand zur Pflicht. Lasst uns gemeinsam Widerstand leisten, lasst uns Menschen sein. Jeder in seiner Art und an seinem Ort, vereint durch unsere Unterschiedlichkeit und unsere Liebe zum Leben, das uns alle vereint.

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ein Artikel von

Kay Sara

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