Nicht müde werden
Nicht müde werden
Brennstoff Nr. 65 | Hilde Domin | 17.01.2024 | 2 Minuten

sondern dem Wunder leise, wie einem Vogel, die Hand hinhalten.

»Hinhören auf die stimmlose Stimme des Herzens heißt, sich selbst nicht belügen« (ich zitiere Ihnen Konfuzius). Diese Stimme aber hört man nicht, außer im Innehalten, in der ›aktiven Pause‹, denn es ist eine aktive Pause, keine leere, in der der Mensch, sobald er wirklich er selbst ist, zugleich aber auch am selbstvergessensten ist. Wollen und Funktionieren haben aufgehört. Ein Augenblick der Katharsis, der Reinigung, der aber kein Augenblick des Handelns ist. Sondern nur eine Festigung des Menschen, der dann der Wirklichkeit anders gegenübertreten wird. Um seine Erfahrung zu formulieren, dazu braucht der Schreibende Mut. Das ist kein Programm von außen. Es ist, wie auch das Handwerkliche, ein Geheimbefehl, den er sich selbst gibt. Der Mut, den er braucht, ist dreierlei Mut: der Mut zum Sagen, der der Mut ist, er selbst zu sein, der Mut zur eigenen Identität. Der Mut zum Benennen, der der Mut ist, die Erfahrung wahrhaftig zu benennen, ihr Zeuge zu sein: das heißt, nichts weg- oder umzulügen, was ja opportun sein könnte. Der dritte Mut ist der, an die Anrufbarkeit der andern zu glauben. Denn wenn er auch nicht ›für andere‹ im strikten Sinne schreibt, überhaupt nicht ›um zu‹, so müsste er doch verstummen, wäre nicht in ihm der Glaube an den Menschen, ohne den kein Wort geschrieben werden könnte. Noch im negativsten Gedicht ist dieser Glaube, dass das Wort ein Du erreicht. Dichtung setzt die Kommunikation voraus, die sie stiftet. Hilde Domin, aus den Frankfurter Poetik-Vorlesungen. Das Buch ist im Fischer Taschenbuchverlag erschienen und kostet ungefähr 8.- Euro.

Das Ende der Kunst wäre ein Weltzustand, wo Menschen nicht mehr unterscheiden können zwischen dem, was ist, und dem, was möglich wäre: in anderen Worten, die vollendete Barbarei. - Hilde Domin

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Hilde Domin

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