GEGEN DAS VERGESSEN
GEGEN DAS VERGESSEN
Brennstoff Nr. 71 | Nikola Lutz | 28.10.2025

Die friedlichen Revolutionärinnen

Mutig stellte sich Maria Kalesnikava 2020 an die Spitze der belarussischen Opposition – gemeinsam mit Svetlana Tichanowskaja und Veronika Tsepkala. Die drei Frauen agierten kreativ, postnational und vor allem friedlich. Mit Charme und Mut stellten sie sich brutalen Sondereinsatzkräften entgegen und gewannen die Wahl. Es hätte ein Märchen vom Frieden werden können – von weiblichen, inklusiven, gewaltfreien politischen Methoden und der Friedensbereitschaft eines Volkes, das diese drei Frauen an seiner Spitze wollte.

Doch der Diktator Lukaschenko hielt sich mit Gewalt an der Macht. Während Tichanowskaja und Tsepkala ins Exil gingen, zerriss Kalesnikava an der Grenze ihren Pass, wurde verhaftet und zu elf Jahren Haft verurteilt. Sie überlebt dort unter unmenschlichen Bedingungen, die sie mehrfach an den Rand des Todes gebracht haben.

Die Hoffnung auf internationale Hilfe zerschlug sich. Analysen zeigen heute, dass die belarussische Opposition das erste Opfer eines neuen globalen Netzwerks autokratischer Staaten wurde. Die Historikerin Anne Applebaum1 beschreibt dieses Phänomen in *Autocracy, Inc.*: Kleptokratische Regime stützen sich gegenseitig über Finanzsysteme und soziale Medien, wodurch sie sich von öffentlicher Meinung und moralischer Legitimation unabhängig machen. So geraten lokale Oppositionen gegen finanzstarke globale Netzwerke zunehmend ins Hintertreffen.

Applebaums Analyse erklärt, warum selbst starke Bewegungen wie in Belarus scheitern konnten – und liefert zugleich Anhaltspunkte für neue Strategien international vernetzter Oppositionsarbeit.

Die Philosophin Olga Shparaga2 betont hingegen die bleibende Wirkung der Bewegung: Die drei Frauen handelten kollektivistisch und pazifistisch, schufen empathische Netzwerke und etablierten Care-Arbeit als politische Kraft. Ihre demokratischen Impulse wirken irreversibel in die Gesellschaft hinein, und das kann nicht mehr ausgelöscht werden.

Maria Kalesnikava sendet selbst aus dem Gefängnis Zeichen ungebrochener Stärke. Ihr Anwalt Maxim Znak, der selbst inhaftiert wurde, veröffentlichte aus dem Gefängnis heraus eine Sammlung von Kurzgeschichten über das Leben hinter Gittern. Die Künstlerin Nikola Lutz hält die Erinnerung wach: Auf *freemascha.org* dokumentiert sie Veranstaltungen, organisiert Konzerte und Ausstellungen, vertont Znaks Texte und kämpft beharrlich gegen das Vergessen.

Nachwort von Nikola Lutz

Von den drei Frauen kenne ich ja nur Mariya Kalesnikava persönlich. Durch ihr Verschwinden habe ich auch Kontakt zu ihrer Schwester Tatsiana Khomich und weiteren Verwandte bekommen. Hier ist die Geschichte unserer persönlichen Begegnung:

Maria Kalesnikava lernte ich in der Stuttgarter Szene der Neuen Musik kennen. Ich lernte in ihr nicht nur eine hervorragende Flötistin kennen, sondern auch eine Künstlerin mit großem Engagement für die Szene. Ihre Offenheit, Neugier und ihr Wille, selbst zu Veränderungen beizutragen beeindruckten mich. Dann ging sie überraschend zurück nach Belarus, was auch eher zufällig passierte, so nahm die Geschichte ihren Lauf.

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ein Artikel von

Nikola Lutz

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