Die Welt ist aus den Fugen“, schrieb William Shakespeare vor 400 Jahren, zu einer Zeit, als sich das kapitalistische Weltsystem zu formieren begann. Heute erleben wir, wie nicht nur die Stützen und Streben unserer Welt aus dem Leim gehen, sondern sich auch die Maßstäbe unseres Handelns und Denkens zunehmend verformen. Es ist, als würde sich das Gerüst unserer Welt unter der Einwirkung einer seltsamen Gravitationskraft oder einer übermäßigen Hitze immer weiter verkrümmen, bis eine Gerade keine Gerade mehr ist und ein rechter Winkel kein rechter Winkel. Wie die Uhren in Dalís berühmtem Gemälde schmelzen unsere Kompasse und Richtlinien in der sengenden Sonne der „Zeitenwenden“. Was früher als logisch galt, ist es nicht mehr, wo einst eine ethische Grenze war, rollen nun die Panzer.
Dieses Buch ist ein Versuch, die Welt als eine verstehbare nicht aufzugeben. Es legt an jüngste Entwicklungen Maßstäbe von Vernunft und Ethik an, die lange weitgehend als selbstverständlich galten. Es ist aus dem Bemühen entstanden, angesichts eines besorgniserregenden gesellschaftlichen Konformitätsdrucks den aufrechten Gang und das klare Denken nicht zu verlernen – und mag hoffentlich auch anderen eine Ermutigung sein, sich nicht verbiegen zu lassen.
ZIVILISATIONSKRISE UND AUSNAHMEZUSTAND
Seit Beginn des dritten Jahrtausends hat sich die westliche Welt immer weiter in einen dauerhaften Krisen- und Ausnahmezustand hineinbewegt, der sich inzwischen zu einem regelrechten Kriegs-zustand auszuweiten droht. Es begann mit dem „Krieg gegen den Terror“ nach dem 11. September 2001 und den späteren Anschlägen in Europa, dann folgte der „Krieg gegen das Virus“, die Eskalation des Ukrainekriegs und der Gaza-Krieg. Im Namen der Bekämpfung des jeweiligen Feindes wurde in vielen Ländern eine massive Aufrüstung in Gang gesetzt, grundlegende Bürgerrechte wurden eingeschränkt oder zeitweise ganz außer Kraft gesetzt und umfassende Überwachungstechnologien eingeführt. Dringende Anliegen wie Klimaschutz und soziale Gerechtigkeit wurden und werden immer wieder mit Verweis auf diese
Ausnahmezustände an den Rand gedrängt. In der Kriegslogik verengt sich der Blick auf den äußeren Feind, die Gesellschaft wird aufgefordert, zu seiner Bekämpfung zusammenzurücken. Wer widerspricht, läuft Gefahr, zu einem Verbündeten des Feindes erklärt zu werden.
Der Ausnahmezustand – auch wenn er offiziell nicht immer so genannt wird – ist inzwischen zu einer neuen Normalität des Regierens in einer zunehmend chaotischen Welt geworden. Zu den
Kennzeichen gehören auch einschneidende Ad-hoc-Gesetzgebungen und gewaltige Sonderbudgets im Haushalt, die in kürzester Zeit geschaffen werden, oft mit geringer demokratischer Kontrolle, und eine Rhetorik, die nur noch Freund oder Feind, gut oder böse kennt und keine Schattierungen mehr zulässt.
Zugleich hat sich in diesen Ausnahmezuständen die Kluft zwischen Arm und Reich sprunghaft weiter vertieft. Während die Zahl der Milliardäre in die Höhe geschossen ist und viele Konzerne Rekordgewinne einfahren, kämpfen immer größere Teile der Weltbevölkerung um ihr wirtschaftliches Überleben. Es versteht sich von selbst, dass dieser Zustand, vor allem wenn er länger andauert, für demokratisch verfasste Gesellschaften äußerst gefährlich ist.
DER KRIEGSZUSTAND
Die Ausrufung von Ausnahme- und Kriegszuständen ist seit jeher ein gängiges Mittel von Regierungen gewesen, um gesellschaftlicher Krisen Herr zu werden. Wenn im Inneren alles brüchig wird, ist nichts so nützlich wie ein guter Feind. Zumindest unter der Voraussetzung, dass man dem tiefgreifenden Wandel, den die Lage eigentlich erfordert, solange wie möglich aus dem Weg gehen will. Gute Feinde können im Chaos klare Fronten schaffen: Wer nicht für uns ist, ist gegen uns. Gute Feinde sind hervorragende Projektionsflächen, auf die man Ängste, Wut und Hass umlenken kann. Gute Feinde bieten, wenn alte Erzählungen zerfallen, neue, schön einfache Narrative: Wir müssen nur den Terror, das Virus, die Impfgegner, Putin oder die Hamas in die Knie zwingen, dann wird alles wieder gut – und das heißt: so wie vorher. Sie können damit vortrefflich von tieferliegenden Ursachen unserer gegenwärtigen Lage ablenken. Und sie sind hervorragend geeignet, um Repression zu legitimieren und große Mengen von Geld in die Taschen derer zu kanalisieren, die ohnehin schon mehr als genug haben. Wie Naomi Klein in ihrem Klassiker „Die Schock-Strategie“ gezeigt hat, wer-den Krisen, egal wie sie zustande gekommen sind, oft von mächtigen Playern der Ökonomie und Politik genutzt, um in der Verwirrung des Augenblicks ihre Agenda durchzusetzen. Die Angst vor einem Krieg, vor einem Zusammenbruch der Wirtschaft, des Gesundheitssystems oder gar der ganzen Zivilisation öffnet die Tür für Weichenstellungen, deren Tragweite die meisten Menschen gar nicht absehen können.
DIE FEINDE, DIE WIR SCHUFEN
Die Versuche, das Chaos zu kontrollieren oder zum eigenen Vorteil zu nutzen, können allerdings paradoxerweise zu einer Zunahme des Chaos führen und die Lage weiter verschlimmern. Ein mittlerweile schon klassisches Beispiel ist der „Krieg gegen den Terror“, der eine regelrechte Explosion terroristischer Aktivitäten rund um den Globus hervorgebracht hat. Tatsächlich hat der Westen die Feinde, die er bekämpft, zu einem beträchtlichen Teil selbst geschaffen. Das begann nicht erst mit dem Anti-Terror-Krieg, sondern bereits in der langen Geschichte des Kolonialismus und den Dutzenden von gewaltsamen Regime-Change-Operationen des Westens nach 1945, mit denen demokratisch gewählte Regierungen gestürzt wurden, unter anderem in der arabischen Welt. Wer Gewalt sät, erntet entsprechend. Unsere Regierungen haben sich seither in einen Kampf mit den Folgen der eigenen Handlungen verbissen, statt die tieferen Ursachen anzugehen, die sehr viel damit zu tun haben, wie der Westen seit Jahrzehnten, teilweise seit Jahrhunderten in der Welt agiert. Das gilt auch für Gaza, wo die rechtsextreme israelische Regierung, mit voller Unterstützung der USA und Deutschlands, längst die Grenzen zu einem Völkermord überschritten hat, wie sowohl Amnesty International und Human Rights Watch, als auch führende Genozid- und Holocaustforscher konstatieren, darunter der israelische Historiker Omer Bartov. Dabei hätte der Anschlag vom 7. Oktober mit großer Wahrscheinlichkeit vermieden werden können, wenn Israel und seine westlichen Unterstützer den Palästinensern ihre von der UN seit Jahrzehnten geforderten Selbstbestimmungs-rechte gewährt hätten, statt den Gazastreifen über 16 Jahre in ein Freiluftgefängnis zu verwandeln.
Auch Russland hätte nicht zu dem Erzfeind des Westens werden müssen, als der es heute betrachtet wird, wenn man Michail Gorbatschows Vision eines „gemeinsamen europäischen Hauses“ in die Tat umgesetzt hätte, statt die westlichen Dominanzsphäre auf Teufel komm raus nach Osten zu verschieben. Führende US-Politiker und Russlandkenner wie CIA-Direktor William Burns und der Geostratege George Kennan hatten über Jahrzehnte gemahnt, russische Sicherheitsinteressen zu berücksichtigen, und eindringlich davor gewarnt, die NATO bis an die Grenzen Russlands zu erweitern. Doch unsere Regierungen setzten sich über alle roten Linien hinweg. Mit der völkerrechts-widrigen Invasion in der Ukraine überschritt die russische Regierung ihrerseits eine rote Linie. Inzwischen hat diese Dynamik in eine Situation geführt, die in eine globale Eskalation münden kann. Doch statt in dieser hochgefährlichen Lage auf Deeskalation und ernsthafte diplomatische Initiativen zu setzen, beschreiten große Teile des politischen Führungspersonals in Europa weiter den Weg der Konfrontation und öffnen die Schleusen für eine schrankenlose Aufrüstung. Dabei riskieren sie nicht nur ein Übergreifen des Krieges auf andere Länder, sondern sie zerstören auch das europäische Wohlfahrtsmodell. Denn fünf Prozent der Wirtschaftsleistung für das Militär würde bedeuten, dass die Hälfte der Staatshaushalte der Rüstung gewidmet werden. Für Soziales, Kultur, Umwelt- und Klimaschutz wird es dann kein Geld mehr geben.
Entscheidend ist, dass es durchaus Alternativen zum Kriegsmodus gab und gibt, die an den strukturellen Ursachen dieser Krisen ansetzen und nicht an den Symptomen. Ein Ausstieg aus der Kriegslogik ist heute zu einer Überlebensfrage der Menschheit geworden. Nur wenn wir die neue Hochrüstung und die damit verbundene Aushöhlung der Demokratie überwinden, haben wir eine Chance, eine lebenswerte Zukunft zu schaffen.
Das Buch „Friedenstüchtig“ ist jetzt gerade, im Herbst 2025 im Promedia-Verlag erschienen.