Die Kunst der Politik besteht darin, Verhältnisse sich nicht so festfahren zu lassen, dass schließlich nur noch eine Möglichkeit offensteht, an die Stelle der Entscheidung zwischen Möglichkeiten also der unausweichliche Zwang getreten ist. Wenn das »Auch anders können« dem »Nichtanders können« (R. Schottlaender) zum Opfer gefallen ist, dann ist Politik am Ende. Soziale Bewegungen sind diejenigen Agenten, die die in Sachzwängen versteinerten Verhältnisse zum Tanzen zu bringen sich vornehmen. Ihre vorzügliche Leistung besteht darin, dass sie der Sachzwanglogik die Gefolgschaft verweigern, abtrünnig sind gegenüber deren Glaubenssätzen und lieber an Wunder als an Unausweichlichkeit glauben. Wir nun leben in einer Gesellschaft, in der die Sachzwänge das Kommando übernommen haben. Politik legitimiert sich mehr und mehr mit Ausweglosigkeit, also damit, dass sie keine andere Wahl gehabt habe, ohne sich der damit ausgesprochenen Bankrotterklärung und ihres Versagens als Politik bewusst zu sein.
Die Sozialen Bewegungen eröffnen demnach, indem sie sich bewegen, zugleich neue Wege, sie durch ziehen ein unwegsames Politikgelände mit Spuren und Pfaden und machen damit unbegangenes, unbekanntes, un erschlossenes Terrain zugänglich. Wo aber das Gelände tatsächlich unbegehbar ist, sumpfig oder steinig, abschüssig oder undurchquerbar, wo also an Verzweigung der Richtung nicht zu denken ist und tatsächlich alles schnurstracks nach vorn, und sei es in die Katastrophe führt, da sollten Soziale Bewegungen Courage genug haben, den Ausweg da zu suchen, wo er einzig und allein zu finden ist, nämlich dort wo man hergekommen ist. Bekanntlich ist ja die einfachste Art, dem Sturz in den Abgrund zu entgehen, die, dass man ein paar Schritte zurücktritt. Ich habe eine Karikatur vor Augen: Eine Schafherde beträchtlichen Ausmaßes drängt einem Abgrund zu. Die vordersten Reihen sind schon abgestürzt, was jedoch auf das Gedränge und Geschiebe keinen Einfluss hat. Nur ein einziges Schaf, ein schwarzes obendrein, strebt in Gegenrichtung und bittet mit einem höflichen etwas verlegenen »Excusez moi« darum, dass man ihm eine kleine Schneise gewähre. Das Zurück nun steht heute unter striktestem Verdikt, über das »Re« wurde ein Denkverbot verhängt. Früher wurden alle gesellschaftlichen Neuorien tie run gen mit Nomenklaturen versehen, die die Vorsilbe »Re« trugen: Renaissance, Reformation, Revolution. Heute werden gesellschaftliche Neuerungen unter den Generalnenner der Innovation subsumiert, womit unmissverständlich deutlich gemacht wird, dass man sich das Zurück gänzlich aus dem Richtungssinn geschlagen hat. Wir haben es also mit einer Halbierung der Vernunft zutun. Soziale Bewegungen hätten sich also der verfemten Rückwärtswendung anzunehmen, der Rücksicht. Man könnte sagen, sie hätten ihre Bündnis part ner auch unter den Toten zu suchen und ihre Ziele an den historisch unterlegenen, nicht zum Zuge gekommenen Möglichkeiten abzulesen.
Nur solche politischen Bestrebungen, die da rauf aus sind, Spielraum, Bewegungsraum (zum Bei spiel durch Verlangsamung) zu gewinnen, Handlungs alternativen zu eröffnen, will ich Soziale Bewegungen nennen. Die Nationalsozialisten, die ihrerseits für sich beanspruchten, »Bewegung« zu sein, gelten ge mäß diesem Verständ nis nicht als Soziale Bewegung, denn sie arbeiteten ja tatsächlich an der Versteinerung und Gleich schaltung aller gesellschaftlichen Handlungen und Ein richtungen bis zur finalen Eindimensionalität. Wenn jedoch dies das Kennzeichen der Sozialen Bewegungen ist, dass sie die Verhältnisse beweglich machen, dann scheint es geradezu widersinnig, über ihren Verfall zu lamentieren, wie das gegenwärtig allenthalben geschieht. Beweglichkeit, Mobilität, Flexibilität stehen so hoch im Kurs, wie nie zuvor, sie nehmen die Spitzenpositionen auf der gesellschaftlichen Werteskala ein, das Tempo der Veränderung ist atemberaubend, das Neuerungsfieber grassiert, an Bewegung ist wahrlich kein Mangel und an Bewegungen auch nicht. Das ist nun allerdings eine Bewegung, die die Beweglichkeit nicht erhöht, sondern zum Erliegen bringt. Die von Globalisierungsagenten, Börsenmaklern, Konzernchefs und Industriebossen nebst ihrer politischen Entourage und ihren naturwissenschaftlich-technischen Erfüllungsgehilfen geforderte Mobilität ist eine allgemeine Mobilmachung in des Wortes kriegerischer Bedeutung, eine Zusammenziehung und Bündelung aller Kräfte in ein und dieselbe Richtung. Es geht einzig darum, die Schlagkraft für die Schlacht auf dem neuen Kriegsschauplatz »Weltmarkt« zu erhöhen. Diese allgemeine Mobilmachung duldet den Flaneur, den Pfadfinder, den Landstreicher, den Abenteurer, den Fährtensucher, den Nomaden, der sich, seinem eigenen Richtungssinn folgend, Spuren suchend im Raum bewegt, gerade nicht, sie duldet nur die Bewegung, die sie selbst in Gang setzt und in Gang hält und nur die Richtung, der sie den Sinn vorschreibt. Sie setzt den schlendernden Landgänger in Marsch, stellt ihn unter Kommando. Der Unterschied zwischen »sich bewegen« und »bewegt werden« kann gar nicht ernst genug genommen werden. Das Bewegt-Werden, die allgemeine Mobilmachung eben, ist das Ende der Beweglichkeit, »rasender Stillstand«, (P. Virilio) Selbstfesselung inmitten der Entfesselung aller Kräfte. Was heute unter dem Programm von Flexibilisierung, Innovation und Mobilität diskutiert wird, erfüllt den Tatbestand der Gleichschaltung im geschichtsträchtigsten und heillosen Sinn des Wortes.
Es sind keine guten Zeiten für Soziale Bewegungen, und zu den Schwierigkeiten und Widrigkeiten, mit denen sie immer schon zu kämpfen hatten, sind seit den Zeiten der Friedens- und Ökologiebewegung einige hinzugekommen, die geradezu pa ralysierend wirken, sie lähmen, handlungsunfähig machen. Es gehört zum Wesen aller Protestbewegungen, dass sie aus der Position der Unterlegenheit gegen ein mächtiges Gegenüber antreten, aus der Ohnmacht also gegen eine Übermacht. Gelegentlich haben Protestbewegungen versucht, ihre Machtunterlegenheit durch imposante große Zahlen zu kompensieren und sich wesentlich damit befasst, wie sie wachsen könnten, um beachtlich zu werden. Sie haben der Machtfülle des Gegners mit Gegenmachtfülle beizukommen versucht. Wir erinnern uns vielleicht noch an den Rausch, den zu Zeiten der Friedensbewegung die 300.000 Demonstranten auf der Bonner Hofgartenwiese auslösten und das Gefeilsche um die richtige Zahl, die Untertreibung der offiziellen Berichterstattung und der Hang zur Übertreibung auf Seiten der Demonstranten. Derartige Rechenexempel sind womöglich die falsche Fährte. Sie folgen den Spielregeln, die die Macht setzt, bleiben ganz in deren Bann, begegnen dem Imponier - gebaren mit Imponiergebaren, der Erpressung mit Gegenerpressung, der Drohung mit Gegendrohung. Die Legitimität eines Anliegens, eines Widerstandes, eines Einspruchs gründet jedoch nicht auf der großen Zahl der Repräsentanten, nicht einmal auf der Mehrheit. »Niemand hat je geglaubt, dass die Meinung der größeren Zahl bei einer Abstimmung durch ihr Übergewicht auch die klügere sei. Es steht Wille gegen Wille, wie in einem Krieg«, schreibt Elias Canetti über das parlamentarische System. Und Henry David Thoreau geht in seinem Essay »Über die Pflicht zum Ungehorsam wider den Staat« aus dem Jahr 1849 noch einen Schritt weiter: „Ein kluger Mensch wird die Gerechtigkeit nicht der Gnade des Zufalls überlassen, er wird auch nicht wollen, dass sie durch die Macht der Mehrheit wirksam werde, denn in den Handlungen von Menschenmassen ist die Tugend selten zu Hause«. Und er fügt hinzu: Jeder, der mehr im Recht ist als die andern, bildet »schon eine Mehrheit um eine Stimme«.
Wenn Soziale Bewegungen sich zu strikter Gewalt losigkeit bekannt haben, dann deshalb, weil sie sich nicht mit der Macht gemein machen wollten. Man kann durchaus die Ohnmacht der Sozialen Bewegungen als diejenige Eigenheit ansehen, auf deren Bewahrung sie am sorgsamsten achtgeben muss, als diejenige Kraft, die einzig in der Lage ist, der Macht die Legitimität zu entziehen. Ohnmächtiger Widerstand attackiert die Macht, ohne sie für sich zu wollen. Demgegenüber ist die Macht hilflos, weil sie ihr Gegenüber dann nicht unter ihre Spielregeln zwingen kann, und das ist das einzige Metier, das die Mäch tigen beherrschen. Macht kann sich nur verteidigen gegen Machtkonkurrenten. Gegenüber ohnmächtigen Angriffen ist sie machtlos. Ohnmächtiger Widerstand entzieht der Macht ihr Gegenüber und lässt sie so ins Leere laufen, lächerlich oder offen gewalttätig werden, was einer Selbstentlarvung gleichkommt und der Eleganz der Macht, ihrer souveränen Unauffälligkeit, abträglich ist. Das Mittel, dessen sich so unarmierter Widerstand bedient, ist die symbolische Aktion, die Recht und Unrecht öffentlich inszeniert, und das Spielfeld, auf dem dieser Widerstand agiert, ist die Kluft, der Abstand, der sich auftut zwischen dem politischen Anspruch, den moralischen Selbstverpflichtungen, den gesetzlichen und verfassungsmäßigen Bindungen der politischen und gesellschaftlichen Akteure einerseits und ihrem tatsächlichen politischen und ökonomischen Handeln, das dem eigenen Machterhalt dient, der unersättlichen Profitgier und jeder Gemeinwohl orientierung spottet, andererseits. Soziale Bewegungen zielen diese Differenz zwischen Sagen und Tun, zwischen Sollen und Vollbringen, zwischen verlautbarter Gemeinwohlorientierung und praktiziertem Machtegoismus an, sie beziehen ihre Kraft aus den Legitimationsdefiziten der politischen und wirtschaftlichen Macht. Entlarvung, Veröffentlichung, Aufdeckung, Skandalisierung ist ihr Operationsbesteck in den siebziger und achtziger Jahren gewesen. Damit ist es vorbei. Es gibt nichts mehr aufzudecken. Die Zeit der Scham ist vorüber und damit auch die Möglichkeit der Beschämung. Das hervorstechende Kennzeichen modernen Politikund Wirtschaftgebarens ist die vollkommene Schamlosigkeit. Der Zynismus ist in ein neues Stadium getreten. Politiker und Wirtschaftbosse sagen, was sie tun. Wenn sie bei einem Mangel an Glaubwürdigkeit behaftet werden, bemühen sie sich nicht etwa, ihre Glaubwürdigkeit wiederherzustellen. Sie reagieren auf Anschuldigungen regelmäßig mit einem eiskalten: Na, und? Die bindende Kraft der Moral ist aus unseren politischen Verhältnissen fast völlig verschwunden, Skandal ist passé, Skandälchen werden stattdessen medial massenhaft erzeugt, um die Erregungsbereitschaft eines einflusslosen Publikums zu bedienen. Es gibt also keine Legitimitätslücken mehr, in die Soziale Bewegungen hineinagieren könnten, nicht weil sich das politische Handeln in die Pflicht der Versprechungen hätte nehmen lassen, sondern weil die Versprechungen auf das Niveau unmoralischen oder gar verbrecherischen Handelns heruntergekommen sind. Der parteiübergreifenden Allgemeinheit dieses Politikstils entspricht es, dass da, wo die Verfassung solcher Rabiatheit noch Grenzen setzt, mit Verfassungs änderungen leichtfertiger als je in der Nachkriegsgeschichte geliebäugelt wird.
Zur neuen Schamlosigkeit gehört es auch, dass die für jede Demokratie konstitutive Pflicht zur Rechen schafts legung gegenüber dem Souverän außer Kraft gesetzt wurde. Rechenschaftslegung ist unter demokratischen Bedingungen sogar dann nicht obsolet, wenn der verschlafene und beinah krankhaft vergessliche Souverän sie nicht einfordert. Heutige Politik zielt demgegenüber geradezu planmäßig auf die Vergesslichkeit des Wahlvolks. An die Stelle der Rechenschaftslegung: »Was habe ich gemacht?« ist die Image - pflege getreten: »Wie habe ich das gedeichselt?« / »Wie war ich, war ich gut?« Von links bis rechts, von schwarz bis grün, macht keine Partei mehr einen Hehl aus dieser ersten Anstrengung, das Ansehen nach allen Regeln der Kunst der Akzeptanzforscher zu schönen. Politik wird zum Metier der Public-Relations-Branche, und funktioniert nach den Gesetzen der Werbung. Die neue Offenheit, der modernisierte Zynismus, hat also die Öffentlichkeit der Sozialen Bewegungen beschlagnahmt, ihren Spiel-Raum, ihre Bühne zum Verschwinden gebracht.
Ein weiteres Dilemma, dem sich die Sozialen Bewegungen mehr denn je ausgesetzt sehen, wenn sie Wirkung erzeugen, sich also Gehör verschaffen wollen, ist ihre Unterwerfung unter das Gesetz der Medien. Die Medienmacher bestimmen die Inszenierungs - formen der Protestbewegungen. Was wegen seiner Sensationalität nicht einen Fliegenschwarm von Journalisten anzieht, was keine profitablen Einschaltquoten verheißt, bleibt sich selbst und der vollkommenen Unaufmerksamkeit überlassen. Dies hat in den Protestbewegungen zur Aufrüstung mit Sensationsund Unterhaltungswert geführt. Mindestens ebensoviel wie über Ziele und Inhalte, wird inzwischen darüber debattiert, wie man sie fernsehgerecht ins Bild setzen könne. Keine Soziale Bewegung mehr ohne ein Public-Relations-Referat, das seismographisch die Zahl der Nennungen in den Printmedien und die Sekundendauer der ihr gewidmeten Fernsehspots registriert. Jubel, wenn sich die Medien zur Berichterstattung geneigt zeigen, und Existenzkrise, wenn sie ihre Gunst abziehen von einem Thema: Die BrentSparAffaire, die eine so potente Organisation wie Greenpeace erst in schwindelnde Aufmerksamkeitshöhen trieb und dann wegen eines lächerlichen, für die Sache selbst völlig bedeutungslosen Messfehlers haltlos ab - stürzen ließ, war ein Lehrstück in Sachen Geiselnahme durch die Medien. Wie können Soziale Bewegungen sich aus diesem erpresserischen Würgegriff befreien? Wahrscheinlich nur, indem sie auf Medienpräsenz pfeifen. Ohn-mächtig kann man nicht halbherzig sein, der Ohnmacht muss man sich mit Haut und Haar verschreiben, sonst weicht alle Kraft aus ihr und sie wird zur Machtlosigkeit, während die Soziale Bewegung gleichzeitig, dem Gegner, dem sie die Legitimität entziehen will, immer ähnlicher wird. Die Selbst inszenierung und Fernseheitelkeit, die von dem Glauben lebt, Fernsehpräsenz sei erst der eigentliche Existenzbeweis (ich war im Fernsehen, also bin ich) macht erpressbar.
Bleibt die Frage nach dem revolutionären Subjekt. Sie ist zu unterschiedlichen Zeiten mit unterschiedlichen Gründen verschieden beantwortet worden. Zu Marx’ Zeiten galt das Proletariat als Träger revolutionärer Potentiale. Die Studentenbewegung war sich nicht ganz schlüssig, ob sie auf die Arbeiter setzen sollte oder auf die Deklassierten: Psychiatrie-Patienten, Gefängnisinsassen, Obdachlosensiedlungsbewohner, oder schließlich doch auf die studentische Mittelklasse. Dann kam die Bürgerinitiativbewegung und der Durchschnittsbürger in seinen Alltagsmalaisen und -bedrohungen avancierte zum Protestpotential. In der Friedensbewegung spielten zweifellos die christlichen Basis gemeinden mit ihrem pazifistischen Ursprung eine besondere Rolle, und heute wird auf die Konsumenten gesetzt. Der Konsument als Revolutionär, das will schwer einleuchten. Andererseits aber, wenn man in Rechnung stellt, dass die großen ökologischen Bedrohungen, allen voran die Klimakatastrophe durch einen Überverbrauch von allem, was der Planet an Verwertbarem hergibt, bedingt sind, dann scheint es doch naheliegend, Bündnispartner unter den Verbrauchern, genauer: den Überverbrauchern zu suchen, die Verbrauchermacht zu organisieren, um politischen Zielen zur Durchsetzung zu verhelfen. Tatsächlich ist es immer wieder gelungen, die Verbraucher in Bewegung zu setzen. Verbraucher haben in der Brentspar-Affaire durch ihren Boykott den Ölmulti Shell in die Knie gezwungen, sie haben die Agro-BusinessKonzerne Monsanto, Novartis, Agrevo und Pioneer Hi-Bred mit ihren Gen-Food-Protesten das Fürchten gelehrt, sie haben in der BSE-Krise den Fleischmarkt zusammenbrechen lassen, und wer, wenn nicht die Verbraucher sollte die Herren der Erde veranlassen, umweltschädliche Produkte zu substituieren?
Allerdings: nichts und niemand stellt in der Konsumentenbewegung den Verbraucher-Status selbst zur Diskussion. Die Tatsache, dass aus daseinsmächtigen Menschen belieferungsbedürftige Mängelwesen gemacht wurden, die jeglicher Fähigkeit zur Selbsterhaltung beraubt sind und wie Säuglinge an den Fütterungsschläuchen der Versorgungskultur hängen, die Tatsache, dass die »Überfülle an Waren die autonome Erzeugung von Gebrauchswerten lähmt«, die »entmündigende Marktabhängigkeit« der Bürger, die damit verbundene weltweite »Standardisierung des menschlichen Handelns«, das zunehmend sich auf die beiden Tunsarten der bezahlten Lohnknechtschaft und des mit Wahlfreiheit verwechselten Kaufzwangs beschränkt, dies alles ist nicht Gegenstand des Protestes. So ist es auch nicht verwunderlich, dass die Konsumenten den wesentlichen Inhalt ihres Protestgebarens darin sehen, eine Ware durch eine andere zu ersetzen, BP-Benzin, statt Shell-Benzin zu tanken, aus Massentierhaltung ge wonnenes Puten- und Straußenfleisch statt des Rindfleisches auf den Tisch zu bringen, und neuerdings atomfreien Strom statt des Atomstroms zu verpulvern. Niemand, der Verbrauchermacht organisieren will, traut sich zu, an den Unabhängigkeitswillen und die Phantasie der Verbraucher zu appellieren, damit diese teils durch Verzicht, teils durch schöpferische Erzeugung von unmittelbar brauchbaren Dingen, sich aus der Erpressung durch die Marktbeherrscher befreien. Erpressung größtmöglichen Stils ist das Metier, der Verwalter all jener Befriedigungsmittel, die nur durch den Einsatz von Geld auf dem Markt als Ware oder Dienstleistung erworben werden können.
Konsumenten, die in dieser Umklammerung durch Arbeits- und Warenlieferanten fidel ihrem Freiheits wahn huldigen, sind tatsächlich Papiertiger des Widerstands. Sie können jederzeit zum marktgerechten Wohlverhalten gezwungen werden. Die Drohung des sozialen Abstiegs ist ungemein wirksam. Tatsächlich lassen die Herren der Erde die Wellen des Verbraucherprotests sich in aller Gelassenheit totlaufen. Und tatsächlich ist die Vergesslichkeit der Verbraucher genauso chronisch wie die des Wahlvolks. Der Rindfleisch konsum ist längst wieder auf dem alten Stand, obwohl doch viele die Einschränkung nicht mit der medienstimulierten Furcht vor BSE, sondern mit Ekel begründet hatten. Ekel sollte man für eine tiefsitzende Aversion halten, aber auch das ist ein Irrtum. Die großen Gefühle von der Trauer über die Liebe, die Sehnsucht und den Ekel, sind längst vermarktet. Damit hängt ein letztes zusammen, was die Sozialen Bewegungen ungemein schwächt. Sie haben sich seit den frühen Tagen der Ökologie- und Friedensbewegung nötigen lassen und sich auch genötigt gefühlt, sich von dem klaren und unmissverständlichen »Nein« abzuwenden und sind statt dessen »konstruktiv« geworden, übergelaufen zu den sogenannten lösungsorientierten Ansätzen. Das starke, schöne, selbstbewusste »Nein Danke« der Anti-Atom-Bewegung und das klare »Nein ohne jedes Ja zu Massenvernichtungswaffen« der Friedensbewegung ist dem Tüfteln an Problemlösungen gewichen. Eleganter konnten Protestbewegungen nicht auf die Seite der Macher gezogen werden. Auf beiden Seiten haben jetzt die Techniker und die Manager das Wort. Der Planet ist engültig zum Management-Objekt (W. Sachs) geworden. Seine Zerstörung und seine Rettung beflügeln gleichermaßen Markt und Profit. Ist das nun ein Totengesang auf die Sozialen Bewegungen? Nein! Aber ein Totengesang auf sie, sofern sie die Dilemmata, in denen sie sind, verleugnen. Soziale Bewegungen bleiben wohl trotz alledem die einzige politische Hoffnung, auf die wir setzen können.