Das „Urgeheimnis“
Das „Urgeheimnis“
Brennstoff Nr. 59 | Peter Coreth | 05.02.2024 | 8 Minuten

Der Absturz war geglückt. Ich begann zu sammeln ...

Vor 50 Jahren habe ich begonnen, Kunst zu sammeln. Damals steckte ich in einer Lebenskrise, wusste nicht, wie es mit mir weitergehen sollte. Nach fünf Jahren als außenpolitischer Redakteur der „Salzburger Nachrichten“ war ich in einer Mansarde in London gestrandet. Dort wurde mir bewusst, dass ich nicht in mein altes Leben zurückkehren würde. Es war mir unmöglich geworden, auf Ereignisse der Weltpolitik mit den gewohnten Sätzen zu reagieren. Ich wollte mich in einem anspruchsvolleren Umriss sehen. Die Welt als Information hatte ihren Reiz verloren, jetzt war ich hinter ihrem Geheimnis her.

Wer war ich eigentlich? Und wer waren die anderen?

Wer war ich eigentlich? Und wer waren die anderen? Worauf beruhte dieses Getriebe ringsum, das mich sprachlos und somit berufsunfähig gemacht hatte? Wochenlang streunte ich durch die Museen auf der Suche nach Orientierung. Erstmals machte ich die Entdeckung, dass Kunstwerke zu mir sprachen. Ich fühlte deutlich, dass sie mich betrafen, obwohl ich fast nichts über sie wusste! Es mag seltsam klingen, aber meine Ängste und Zweifel, meine Wut auf die Verhältnisse, mein Einzelgänger-Stolz, all die verdrängten Träume – sie traten mir auf einmal aus den Kunstwerken entgegen. Der romanische Weltenherrscher in seiner erratischen Frontalität, der lässig entspannte Bodhisattva aus der Tang-Dynastie, der keulenschwingende Nagelfetisch aus den Savannen Afrikas oder der mit Trommel und Rasseln bewaffnete mongolische Schamane: Hier standen sie mir auf Augenhöhe gegenüber wie die nackte Lilith, die mich herausfordernd ansah, rasend in ihrer Teilnahme am Irdischen. Ob Götter- oder Menschenbilder – in beiden fand ich Aspekte meiner eigenen Natur und Antworten auf das Rätsel menschlicher Existenz.

Widersprüchliche Vielstimmigkeit

Was würde es für unser gesellschaftliches Gefüge bedeuten, könnten diese mythologischen Bildkräfte tatsächlich in uns wirksam werden? Weil sich Kulturen erst im Vergleich miteinander erschließen, wollte ich ihre sinnstiftenden Wahrheiten nicht wortwörtlich nehmen oder gegeneinander stellen, vielmehr suchte ich in ihrer scheinbar widersprüchlichen Vielstimmigkeit den gemeinsamen Grundton zu vernehmen. Ein Mythos teilt sich nicht in Begriffen und Definitionen mit, vielmehr in Bildern, Gleichnissen, Entsprechungen. Marsilio Ficino war schon im 15. Jahrhundert einer Matrix verschiedener Weltbilder, die er „Urwahrheit“ nannte, auf der Spur gewesen. Die Kirche, die sich als die einzig legitime Vermittlungsinstanz zum Heil verstand, konnte mit einer Öffnung und Verschmelzung von Weltbildern keine Freude haben, waren doch alle Glaubensdinge von der Machtfrage durchwirkt.

... aufgehört, etwas werden zu wollen

Auf meiner Fensterbank standen die ersten antiken Gegenstände, die ich – einem unklaren Impuls folgend – aus meinen Ersparnissen gekauft hatte: Kultfiguren, Tierstatuetten, rituelle Gerätschaften, Amulette, Insignien der Macht. Ich versuchte, eine Beziehung mit ihnen aufzunehmen. Mich reizte die imaginäre Zwiesprache mit Menschen, die z. B. ein neolithisches Tongefäß mit einem rätselhaften Ritzmuster versehen hatten. Das Gefäß in Händen, wusste ich mich unversehens mit Menschen aus der Jungsteinzeit verbunden. Es drängte mich, eine Zeitbrücke zu jenen frühen Töpfern zu schlagen, das Gemeinsame freizulegen, das uns über Jahrtausende verband. Getrieben vom Eros des Aufspürens und der Entschleierung ließ ich mich auf die Märkte hinaustreiben. Dabei fühlte ich die Erleichterung des Streunenden, der aufgehört hat, etwas werden zu wollen. Ich sah plötzlich Dinge, die sich denjenigen verschließen, die streben und wirken. Das Fremdsein in der uferlosen Stadt, in der Welt überhaupt, tat weh. Ich war 27, arbeitslos und ohne Krankenversicherung, aber auf eine sonderbare Weise stolz auf mich: Der Absturz war mir geglückt. Und ich hatte begonnen zu sammeln!

Sinnsuche

Kunstwerke sind stofflich, greifbar, aber zugleich Annäherungen an das Unbegreifliche. Oft waren sie der einzige Halt, auf den ich zurückgreifen konnte und sei es inmitten einer schlaflosen Nacht, wenn mir meine Unzugehörigkeit im Kopf dröhnte. Für mich ist Sammeln immer eine Sinnsuche gewesen. Seit jenen Londoner Jahren erwarte ich von jedem Kunstwerk vor allem das eine: dass es mich vor ein Rätsel stellt, aus dem mir eine noch unbekannte Lebensmöglichkeit erwachsen könnte.

Es zählt zu den ältesten Erfahrungen der Menschheit, dass Leben in der Gegenwart die ständige Verbindung mit der Frühzeit voraussetzt. Über lange Zeiträume hat man dem vorher Dagewesenen ontologisch Priorität zuerkannt und das aus ihm Hervorgegangene geringer geschätzt, war es doch weiter vom Ursprung entfernt. Das schien unseren Begriff von Fortschritt auf den Kopf zu stellen. Auch der Ahnenkult von Stammesgesellschaften beruhte auf dieser Vorstellung einer zu den Anfängen zurückreichenden Verwandtschaftslinie, die es unbedingt zu erhalten gilt. Die Erneuerung dieser Verbindung mit dem Ursprung ist von jeher die Aufgabe der Schamanen und Mythenerzähler gewesen. Im Zentrum von Mythos und Kultgeschehen stand immer die Vergegenwärtigung der Ursprungssituation.

Eine in Vergessenheit geratene Weltsicht

Was man das „Urgeheimnis“ nannte, war von den Jägergesellschaften auf die frühen Bauernkulturen übergegangen, fand Eingang in die alten Schriften Chinas, Indiens, Persiens oder Ägyptens, seine Symbole wurden auf Papyri und Tontafeln weitergegeben. In der Antike vertrauten es die Mysterien-Schulen ihren Initianten unter dem Siegel strengster Verschwiegenheit an. Bei diesem Wissen handelte es sich um winzige Reste eines alten Erfahrungsguts, einer in Vergessenheit geratenen Weltsicht, die aus magischen Zeiten stammt und mit dem Begriff Natursichtigkeit nur mangelhaft bezeichnet ist. Die indische Kunst verwendet dafür das Symbol des dritten Auges (Stirnauges). Die Griechen, zwischen Rationalität und Mysterienspiel schwankend, stellten beides in den Dienst der Selbsterkenntnis.

Un-?-Wissen als Waffe

Ein wirkmächtiges Kompendium mythischen Geheimwissens aus dem hellenistischen Alexandrien ist z.B. die Tabula Smaragdina des legendären Hermes Trismegistos, den man mit Thot, dem ägyptischen Gott der Gelehrsamkeit, identifizierte. Im Mittelalter aus dem Arabischen ins Lateinische übersetzt, sorgte das symbolische Analogiesystem der Smaragdtafel für Aufregung im Abendland. Hier waren kirchliche wie weltliche Machthaber jahrhundertelang bestrebt, gnostisches Wissen unter Verschluss zu halten, damit es nicht zur Waffe in den Händen Unbefugter werde: Die Sprengkraft der Überlieferung hätte allemal ausgereicht, die bestehenden Ordnungen zu gefährden. Wo immer Einzelne sich dieser Kenntnisse zur Selbstermächtigung bedienten, entstanden Turbulenzen, die durch Repression niedergehalten wurden.

Repression überflüssig – Ratlosigkeit blüht

In unserer heutigen Gesellschaft ist solche Repression überflüssig geworden: Die von Sachzwängen bestimmten Lebensformen und der mediale Ausstoß verordneter Denkmuster sorgen ganz von selbst dafür, dass Sinnfragen kaum noch zum Zug kommen. Eine dem Hedonismus verpflichtete Massenkultur stellt mit geistlosen Spektakeln sicher, dass die Leute dahin und dorthin kommen, bloß nicht zu sich! Die Speisen auf den Tischen der Kunst erinnern oft nur noch entfernt an Nahrungsmittel.

Auch in der Kunstszene ist der Gaumenkitzel zum Leitgedanken avanciert: Man goutiert und knabbert ohne eigentlichen Hunger, als wollte man die Idee des Essens persiflieren. Das modisch garnierte Häppchen, das man sich aus der Überfülle des Büffets nahezu beliebig erwählt, entspricht erschreckend genau vielen Kunstprodukten und ihrer Rezeption. Am Ende hat man gegen die Langeweile schnabuliert und ist dabei völlig leer geblieben. Mit unserem kulturellen Bedeutungstransfer steht es nicht zum Besten. Wir haben verlernt, die verborgene Bedeutung der Dinge, ihrer Formen, Farben oder Materialien zu lesen. Nichtsdestoweniger blüht die Kunst, mit ihr die Eitelkeit und – ganz im Stillen – blüht die allgemeine Ratlosigkeit.

Das Wesentliche, der Profit und das Menschsein

Ich glaube, die Nutznießer dieser Entwicklung zu kennen und ahne, weshalb wir im Belanglosen fast ersticken, während das Wesentliche, uns fundamental Betreffende, konsequent an die Ränder unserer Gesellschaft abgedrängt wird. Es gibt dieses Sperrgebiet noch immer, von dem man uns so fürsorglich fernhält! Es beginnt dort, wo wir das Feld der uns zugedachten Nützlichkeit und Idiotie verlassen. An uns läuft eine sanfte Dressur ab, die das Ziel hat, uns von den Ursprüngen abzukoppeln. Das Bewusstsein unserer Herkunft soll getilgt werden, damit wir unbelastet die Vorgaben einer globalisierten Ökonomie erfüllen können. Die großen geistigen Weltentwürfe und Menschenbilder zerbröckeln vor unseren Augen. Eine vom menschlichen Maß abgehobene Technokratie hat weltweit den Siegeszug angetreten. Technokraten sind hochspezialisiert, auf Geistlosigkeit nämlich, und sie werden uns alles aufzwingen, was irgendwie machbar ist, wenn es nur Profit verheißt. In einem solchen Environment fällt es uns immer schwerer, unser historisches und mythisches Gedächtnis (Mnemosyne) zu behalten, im eigentlichen Sinn des Wortes Menschen zu bleiben.

Die Sehnsucht kennt kein Sperrgebiet

Doch auch der überwachte, verwaltete, von Algorithmen gelenkte und in heillosen Abläufen gefangene

Mensch bleibt ein metaphysisches Wesen. Aus allen Tröstungen der Religionen herausgefallen, ist er letztlich doch in seiner Sehnsucht nach einem anderen, sinnhaltigen Leben geborgen. Darin liegt eine Hoffnung: Wir könnten dieser Sehnsucht Nahrung geben, bevor man uns auch dieses Licht ausbläst.

Ich betrachte es als den Glücksfall meines Lebens, in jungen Jahren von meiner Spur abgekommen und in das Sperrgebiet gestolpert zu sein. Dort habe ich mich als ein Streunender angesiedelt. Nahezu alles, was mir heute kostbar und bedeutungsvoll erscheint, ist mir auf ziellos begangenen Wegen begegnet.

Traumbild, Mut und Wirklichkeit

Haben wir noch den Mut zu träumen und diese Bilder zur Realität zu erklären? So haben es die frühen Menschen getan, als sie ihre Höhlenwände mit Traumbildern von Jagdszenen bemalten, ein suggestiver Akt des Überlebens. Das Ernstnehmen der eigenen Imagination, diese selbstbewusste Gleichsetzung von Traumbild und Wirklichkeit, dürfte in der Steinzeit auf größere Akzeptanz gestoßen sein als im anthropozentrischen Zeitalter. Wir feiern lieber unseren Fortschritt und vertrauen uns weiterhin einer entfesselten Ratio an, die in wenigen Jahrhunderten die Grundlagen menschlicher Existenz irreversibel beschädigt und uns in Verwirrung zurückgelassen hat. Wir mögen unsere Vorfahren für „primitiv“ halten, doch sie hatten dank ihrer intuitiven Weltwahrnehmung immerhin das, was man eine Zukunft nennt.

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ein Artikel von

Peter Coreth

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