Sobald man die Grenzen der EU überschreitet, ticken die Uhren anders. Besonders deutlich wird das in den Ländern des Balkan.
Es war vor zehn Jahren, als ich das erste Mal nach Bosnien-Herzegowina reiste, das ich vor allem mit einem schrecklichen Krieg verband. Und dann überraschte mich dieses kleine Land mit viel Charme, freundlichen Menschen und wunderbaren Landschaften. Seitdem zieht es mich immer wieder dorthin, in ein Land, das einen wohltuenden Kontrast bietet zum Massentourismus des benachbarten Kroatien.
Bei der Ankunft des Nachtbusses in Sarajevo kommt ein Straßenhund angelaufen und schnüffelt an meinem Gepäck. Ein Mann spricht mich an: „Taxi?“ - es stellt sich heraus, dass er kein Taxifahrer ist, sondern „privater Chauffeur“, der mir einen guten Preis anbietet. Ich nehme das Angebot dankend an und werde direkt in die berühmte Altstadt gebracht, die Baśćarśija, ein Rest osmanischer Kultur in einer multikulturellen Stadt. Neben vielen Moscheen sind in der Stadt auch katholische Kirchen und Synagogen zu sehen.
Sarajevo ist anders als westliche Städte, entschleunigter und zugleich sehr lebendig. Hier wird deutlich, auf welch hohem Niveau wir in Österreich leben (und jammern), zum Beispiel beim Thema Nachhaltigkeit: der achtlos weggeworfene Müll, die Flut an Plastiksackerl, der für Fußgänger oft gemeingefährliche Autoverkehr (und zugeparkte Gehsteige), Radfahrer sind kaum zu sehen. Menschen wie mir, die auf Fleisch weitgehend verzichten (es im Grunde genommen aber mögen), wird es hier nicht leicht gemacht: an jeder Ecke eine Ćevabdzinica oder Buregdzinica, der Duft von Gegrilltem und Gebratenen liegt in der Luft – und das alles zu einem Bruchteil der Preise, die wir gewöhnt sind. Vegetarische Gerichte sind eine Seltenheit, Bio-Lebensmittel schwer zu finden. Und ja, die Ćevapis, wie sie hier heißen, sind köstlich.
Wenn man dann die Einschusslöcher an vielen Häusern sieht oder zerstörte, nicht wieder aufgebaute Gebäude – Folgen eines Krieges, der 30 Jahre zurückliegt - wird klar, dass hier andere Prioritäten gesetzt werden. Dass das Land seit dem Krieg in drei Zonen unterteilt ist und von einem dreiköpfigen Staatspräsidium – bestehend aus einem bosnischen, kroatischen und serbischen Mitglied - geleitet wird, macht die Sache nicht einfacher.
Als politisch korrekte Österreicherin könnte ich nun verzweifeln angesichts dieser Zustände - oder aber es wie die Bosnier halten und das Leben ein wenig entspannter sehen. Einen Kaffee trinken, stark gebrüht, und vielleicht eine Zigarette dazu rauchen (nirgendwo wird so viel geraucht wie hier). Und mich auf die Details konzentrieren, die dieses Land für mich so charmant machen: der Kellner, der zur Musik aus dem Radio singt. Eine alte Frau, die am Straßenrand sitzt und Socken strickt, die sie auch gleich verkauft. Die Hilfsbereitschaft der Menschen: Auf der Suche nach einem Lokal frage ich in einem Geschäft nach und gleich drei Einheimische begleiten mich, um es mir zu zeigen.
Dass hier tatsächlich andere Regeln herrschen als im Großteil Europas, wurde mir bei einem Besuch im Herbst 2021 klar: Während in Österreich seit eineinhalb Jahren der Ausnahmezustand herrschte, war im Nachtbus Wien – Sarajevo alles anders: weder die (überwiegend bosnischen) Fahrgäste noch der Fahrer trugen den vorgeschriebenen Mund-Nasen-Schutz. Das Aha-Erlebnis setzte sich in Sarajevo fort: In der Straßenbahn bedeckte etwa die Hälfte der Fahrgäste ihr Gesicht, die andere nicht (auch dort sah man vereinzelt Hinweise auf eine Tragepflicht) – und niemand schien sich daran zu stören. Etwa zur selben Zeit erfuhr ich, dass das bosnische Parlament die Einführung der „2G-Regel“ abgelehnt hatte, von einer möglichen Impfpflicht war keine Rede.
Auf der Weiterfahrt von Sarajevo nach Mostar dann der nächste Beweis für die bosnische Leichtigkeit: Ich komme knapp vor der Abfahrt des Zuges am Bahnhof an, wo es keine Anzeigentafeln und keinen Hinweis darauf gibt, zu welchem Bahnsteig ich muss. Laufe Stufen hinauf, sehe einen Zug am Gleis nebenan stehen, laufe wieder hinunter. Eine Frau kommt an mir vorbei, ich keuche „The train to Mostar?“. Sie antwortet „You don‘t have to hurry, it‘s still three minutes“. Sie geht seelenruhig die Stufen hinauf und spricht mit dem Schaffner, weil ich keine Zeit mehr hatte, ein Ticket zu kaufen. Der setzt eine strenge Miene auf und erklärt mir, dass ich drei Bosnische Mark extra zahlen muss (rund 1,50 Euro).
Wir fahren los, die Landschaft außerhalb Sarajevos versinkt im Nebel. Doch bald kämpft sich die Sonne durch und wir werden von grünen Hügeln begleitet, unterbrochen von einigen Tunnels. Dann plötzlich ein lautes Krachen, als ob etwas auf den Zug gefallen wäre. Der Zug kommt kurz nach einem Tunnel zum Stehen und dann geschieht lange nichts. Endlich erscheint ein Zugbegleiter und erklärt, was passiert ist, ein älterer Bosnier übersetzt für mich ins Englische: ein Stein hat sich aus der Tunneldecke gelöst und die Elektronik der Lokomotive beschädigt. Eine neue Lokomotive wurde aus Mostar angefordert, aber es kann eine Stunde dauern, bis sie da ist.
Eine Stunde vergeht, dann noch eine. Ich unterhalte mich mit dem Bosnier, einem Universitätsprofessor, der mir erzählt, dass er kurz vor dem Krieg mit seiner Familie in die USA ging und nach 20 Jahren zurückkehrte. Auf meine Frage, warum er nicht geblieben sei, lautete seine Antwort: „Weil es sich hier gut leben lässt.“ Die Fahrgäste bleiben ruhig, ich höre viel Gelächter und gehe in die Kaffeebar, um etwas zu trinken. Dort haben einige Leute sich versammelt und unterhalten sich angeregt. Manche schauen nervös in ihr Handy, doch niemand scheint sich zu beschweren. Der Zug steht mitten in einem Waldstück, einige Türen sind geöffnet und ich strecke meine Nase hinaus, um die frische Luft einzuatmen. Nach über zwei Stunden geht die Fahrt weiter, die Strecke entlang des Flusses Neretva, der türkisgrün in der Sonne funkelt und sich durch eine bergige Landschaft schlängelt, ist an Schönheit kaum zu überbieten.
Wir erreichen Mostar nach weiteren Unterbrechungen schließlich mit drei Stunden Verspätung. Beim Aussteigen sehe ich die Frau vom Bahnhof wieder, sie wirkt genauso gelassen wie bei der Abfahrt. Ihr knapper Kommentar zu dem Vorfall im Zug: „Die Menschen am Balkan sind eben viel entspannter als im Rest Europas.“
Im nächsten Beitrag: von Mostar weiter nach Montenegro
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