Wo das Verständnis beginnt
Wo das Verständnis beginnt
Brennstoff Nr. 67 | Erich Pello | 31.07.2024 | 6 Minuten

Verstehen ist manchmal leichter gesagt als getan. Vor allem, wenn es sich um den Mörder des eigenen Vaters handelt. Pat Magee legte die Bombe, die Margaret Thatcher treffen sollte. Thatcher hatte Glück, doch fünf andere starben. Unter den Opfern der Vater von Jo Berry. Jo wollte Pat verstehen, - warum hat er ... die beiden betreiben gemeinsam ein Friedensprojekt „building bridges“. Beide kommen zu unserem Pfingstsymposium.

Nachts um 2:54 am Freitag den 12. ­Oktober 1984 ­explodieren 50 kg Gelignit - eine ­Sprenggelatine aus Nitroglycerin, die 1875 von Alfred Nobel ­erfunden wurde.

Diese Detonation im Badezimmer des Raumes 629 durchschlug sechs Stockwerke des Grand Hotels von Brighton, ließ Teile der Fassade einstürzen und galt dem Ableben der britischen Premierministerin. Fünf Mitglieder der Conservative Party, darunter der 59 jährige Anthony Berry, kamen ums Leben. Viele ­weitere wurden verletzt, nicht aber Margaret Thatcher und ihr Mann Denis. Tags darauf fand wie geplant die Parteiversammlung der CP statt. Danach gab die Premierministerin ein Interview: „Wir haben eine Tragödie erlitten, keiner von uns hätte es für möglich gehalten, dass so etwas in unserem Land geschehen könnte ... Doch dieser Anschlag ist gescheitert. Alle Versuche, die Demokratie durch Terrorismus zu zerstören, werden scheitern.“

„Dies zeigt die verblüffende Arroganz der britischen politischen Elite, die sich für unerreichbar von uns unterdrückten Iren hielt. Dies zeigt ihre Ignoranz gegenüber der Fähigkeit und Entschlossenheit der irisch-republikanischen Bewegung, ihre Ziele zu verfolgen. ... Ich bedaure zutiefst, dass Menschen ihr ­Leben verlieren mussten. Aber konnte die ­herrschende Tory-Klasse in dieser Zeit erwarten, dass sie immun bleiben würde, während ihre Frontsoldaten uns so viel antaten?“ sagte Jahre später Patrick Magee.

Als Mitglied der Irish Republican Army hatte er 24 Tage vor der Detonation die Bombe mit Zeit­zünder hinterlegt. Nach seiner Verhaftung am 22. Juni 1985 wurde er im September 1986 zu achtmal lebenslänglich, mit einer Mindestfreiheitsstrafe von 35 Jahren verurteilt. Aufgrund des „Good Friday Agreements“ entließ man ihn im Jahr 2000 aus dem Gefängnis. Das Karfreitagsabkommen vom 10. April 1998 ist ein Übereinkommen zwischen der Irischen Regierung, der Regierung des Vereinigten Königreichs und den Parteien Nordirlands. Die paramilitärischen Truppen der IRA, der Ulster Defence Association (UDA) sowie der Ulster Volunteer Force (UVF) erklären ihre Bereitschaft zur Entwaffnung.

Neun Stunden nach der Explosion ­veröffentlichte die IRA folgende Erklärung: „Frau Thatcher wird nun ­erkennen, dass Britannien nicht unser Land besetzen, unsere Gefangenen foltern und unsere Leute auf unseren eigenen Straßen angreifen kann und damit einfach so davonkommen wird. Heute hatten wir Pech, aber denken Sie daran, wir müssen nur einmal Glück haben; sie werden immer Glück haben müssen. Gebt Irland Frieden und es wird keinen Krieg mehr geben“.

In seinem Buch „Where grieving begins / Wo die ­Trauer beginnt“ beschreibt Patrick Magee seine ­Etikettierung zum „Brighton-Bomber“ als „ein jegliches Denken ­begrenzendes Klischee. Wenn ich in den Mittepunkt ­gerückt werde, wird den Menschen die Möglichkeit ­genommen, den Kontext des Bomben­anschlags zu verstehen.“

Welchen Kontext?

Was meint dieser Magee, dieser Mörder?

Will ich seinen Terrorakt verstehen?

Wozu, weshalb?

Da gibt es nichts zu Verstehen!

Oder doch? - „Unsre Herrn, wer sie auch seien, säen unsre Zwietracht gern. Denn solang sie uns ­ent­zweien, bleiben sie doch unsre Herrn,“ schreibt Bert Brecht im Solidaritätslied.

Kann Verständnis von Zwietracht, von rechthabe­rischer, moralisierender Überlegenheit - die ­gerade jetzt in immer mörderischere Konflikte, Kriege ­mündet, münden soll - befreien?

Wie können wir verstehen lernen?

Verstehen lernen wollen?

Warum sollten wir?

„ ...Versteher“ ist mittlerweile zum Schimpfwort ­verkommen. Wie auch Pazifist. Warum?

Der Nordirlandkonflikt geht auf die englischen ­Eroberungskriege in Irland ab 1169 zurück, lange bevor Nordirland nach dem Unabhängigkeitskrieg ­Irlands 1921 beim Königreich Großbritannien blieb. Die Neu-Formierung der paramilitärischen Ulster ­Volunteer Force (UVF) durch radikale Protestanten ließ ihn ab 1966 abermals eskalieren. Bis 1998 verursachte er über 3500 Ermordete, mehr als die Hälfte waren Zivilisten. Die britische Provinz im Nordosten der irischen Insel mit ihren 1,6 Millionen Einwohnern hatte darüber hinaus über 40 000 ­Verletzte zu beklagen, 18 000 Anklagen wurden wegen „terrorist or ­serious public order type offences“ erhoben. Mehrere Zehntausend wurden verhaftet, verhört - ohne, dass später Anklage gegen sie erhoben wurde.

Jo Berry: „Mir ist klar geworden - egal auf welcher Seite des Konflikts wir stehen - wenn wir das Leben des Anderen gelebt hätten, hätten wir das Gleiche tun können, was der ­Andere getan hat. Wäre ich aus einem republikanischen ­Umfeld ­gekommen, hätte ich leicht die gleichen Entscheidungen treffen können wie Patrick,“ sagt Joanna „Jo“ Berry, Anthonys Tochter, die ihren Vater im 27. Lebensjahr verloren hatte.

„Es fühlte sich an, als wäre ein Teil von mir in dieser ­Bombe gestorben. Ich war völlig überfordert, doch ­irgendwie hielt ich an einer kleinen Hoffnung fest, dass aus dem Trauma ­etwas Positives entstehen könnte. So begann ich nach ­Irland zu ­reisen. Viele entgegenkommende, mutige Menschen - die ebenfalls üble Gewalt zu ertragen hatten - erzählten mir von ihren Erfahrungen, schenkten mir ihre Aufmerksamkeit. ­Erstmals hatte ich das Gefühl, dass mein Schmerz wirklich gehört, verstanden wurde.

So wollte ich Patrick treffen, um dem Feind ein Gesicht zu geben, ihn als echten Menschen wahrzunehmen. Wir ­sprachen außergewöhnlich offen, intensiv miteinander. Viel ­erzählte ich über meinen Vater, während Patrick mir etwas von seinem ­Leben erkennen ließ. Einfühlungsvermögen wurde wichtiger als Vergebung. Zu sagen: „Ich vergebe dir“, ist fast schon herab­lassend - damit bleibt man in einem „wir und sie“-­Szenario eingesperrt, bei dem ich Recht habe und du Unrecht. Mit dieser Einstellung ändert sich nichts. Doch ich kann Mitgefühl empfinden, und in diesem Moment gibt es kein Urteil mehr. Manchmal, wenn ich Patrick begegnete, hatte ich ein so klares Verständnis von seinem Leben, dass es nichts zu ­vergeben gab. Etwas von der Menschlichkeit, die ich verloren hatte, als die Bombe hochging, kehrte wieder zurück.“

Pat Magee: „Obwohl ich bis heute zu meinen Taten ­stehe, werde ich immer die Last tragen, anderen Menschen ­geschadet zu haben. Wenn Jo zu verstehen begänne, warum sich ­jemand wie ich am bewaffneten Kampf beteiligen wollte, wäre schon etwas erreicht, dachte ich. Das Großartige ist, dass Jo genau mit dieser Absicht den Weg beschritt - sie wollte wahrnehmen, hörte einfach zu - offen, ruhig und ohne jegliche Feindlichkeit, wie ich es zuvor noch nie erlebt hatte. Ich ­erzählte ihr, dass ich im Alter von 19 Jahren in den bewaffneten Kampf eingetreten war, nachdem ich gesehen hatte, wie ­unsere ­kleine irische Gemeinschaft von den Briten misshandelt wurde. Wir mussten darauf reagieren. 28 Jahre lang war ich in der republik­anischen Bewegung aktiv. Selbst im Gefängnis war ich immer noch ein Freiwilliger.“

Jo erzählte mir, ihre kleine Tochter hatte nach einem ­unserer Treffen gesagt: „Heißt das, mein Großvater Anthony kann jetzt zurückkommen?“ Dies bleibt hängen in mir, denn ­natürlich hat sich nichts grundlegend geändert. Egal, was Menschen, die sich nach schrecklichen Ereignissen treffen, erreichen können - der Verlust bleibt, und Vergebung kann diesen ­Verlust nicht auffangen.

Wir (Pat und Jo) sind bereit, weiterzumachen - darin liegt die Vernunft.

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