Über viele hundert Millionen Jahre hat sich die Beziehung von Lebewesen und Viren entwickelt. Viren waren dabei immer eine Art Sparringpartner der Evolution. Ohne Viren gäbe es kein Immunsystem und auch keine Menschen.
Viren sind die am meisten unterschätzten Mikroorganismen. Während bei Bakterien die Aufarbeitung der Arten in vollem Gange ist, steckt unser Wissen über Viren noch ganz am Anfang. In Meeren etwa finden sich zehnmal mehr Viren als zelluläre Organismen. „Jede einzelne Spezies hat zahlreiche auf sie spezialisierte Viren“, erklärt Patrick Forterre, Mikro biologe am Pariser Pasteur-Institut.
Forterre zählt zur Minderheit jener Wissenschaftler, die Viren für Lebewesen halten. Er bezweifelt das alte Lehrbuch-Wissen von Viren als „Taschendiebe“, die sich aus den Zellen Erbgut klauen und damit selbstständig machen. Die umgekehrte Variante sei biologisch wesentlich plausibler. „Nahezu 20 Prozent unseres Genoms haben eindeutig viralen Ursprung.“
Ein reger Tauschhandel
Im Lauf der Evolution hätte es einen gewaltigen Nachteil bedeutet, parasitäre Mikroben, die nur ihren eigenen Vorteil bedienen, in lebendige Systeme einzubinden. Stattdessen wurde die Bildung von Symbiosen klar bevorzugt. Organismen, die es nicht schafften, sich mit ihren Mikroben abzustimmen, starben aus. Offenbar herrschte in den Ur-Ozeanen bei der Evolution des Lebens ein reger Tauschhandel. Anstatt bestimmte Techniken selbst zu erfinden, wurden einfach Viren oder Bakterien eingebürgert, die besondere Fähigkeiten mitbrachten. Als im Meer treibende Einzeller Bakterien schluckten, die Photosynthese beherrschten, war das der Startschuss für die Evolution der Pflanzenwelt. Wie neuere Forschungen zeigen, waren es Viren, die den Zellen bei dieser Einbürgerung halfen.
Viren als Entwicklungshelfer?
Für Forterre und sein Forschungsteam am Pasteur-Institut standen die Viren ganz am Anfang des Lebens. „Der Konflikt zwischen zellulären und viralen Organismen war der zentrale Motor der biologischen Evolution.“ Ohne den Einfluss von Viren gäbe es demnach die ganze Menschheit nicht. Viren trieben die Entwicklung stets voran, auch wenn sie selbst nie wussten, wohin es gehen sollte. Doch gerade die Eigenschaft, ihre Gene wie ein Kuckucksei in fremdes Erbgut einzuschleusen und so über Versuch und Irrtum im gekaperten Genom Reproduktionsfehler, Mutationen und sonstige Zufälle zu fördern, machte die Herausbildung höheren Lebens möglich.
Aber nicht nur ihre Eigenschaft als Quälgeister machte evolutionär gesehen Sinn, auch ihre Struktur war von Nutzen. Aus der viralen Welt stammen viele Neuerungen, die an Zellen weitergegeben wurden. Viren schafften es beispielsweise, die Erbsubstanz DNA so zu verändern, dass es möglich war, wesentlich längere und größere Biomoleküle zu bilden. Die bekannte Struktur der DNA als Doppelhelix war demnach eine Erfindung von Viren. Auch dass unsere Zellen heute einen Kern haben, ist durch die Eingliederung viraler Bestandteile gelungen.
Begriffe wie „gut“ und „böse“ spielten in der Entwicklungsgeschichte des Lebens ohnehin nie eine Rolle: Was taugte und Vorteile bot, wurde verwendet, der Rest ging unter. „Aus evolutionärer Sicht kann man mit einigem Recht behaupten“, bringt Forterre es auf den Punkt, „dass Viren bei der Entstehung des Lebens die treibende Kraft waren. In gewisser Weise nahmen sie die Rolle von Gott ein.“