Wir müssen Brücken bauen zwischen dem Leben und der Politik
Wir müssen Brücken bauen zwischen dem Leben und der Politik
Brennstoff Nr. 47 | Leonardo Boff | 15.02.2024 | 7 Minuten

TATSACHE IST, dass es zweifellos eine große Irritation in der Gesellschaft gibt, rassistische Intoleranz, bittere Diskussionen und viele Schimpfwörter, die Kinder niemals hören sollten. Vor allem das Internet hat die Tore für Straftaten aller Art geöffnet. Eine Gesellschaft kann nicht überleben, wenn ihr soziales Netzwerk zerstört wird. Genau da liegt die Gefahr der Radikalisierung.

Ich denke, dass uns die Geschichte manch gute Lektion erteilen und uns von der Wahrheit der Dinge eher überzeugen kann als theoretische Argumente. Ich möchte eine Geschichte weitergeben, die ich vor langer Zeit gehört habe und die von großer Überzeugungskraft ist. Sie lautet folgendermaßen:

Zwei Brüder lebten harmonisch in zwei Bauern höfen, die nahe beieinander lagen. Sie hatten eine gut funktionierende Getreideproduktion, einige Rinder, und sie kümmerten sich gut um ihre Schweine.

Eines Tages hatten sie einen kleinen Streit. Die Gründe dafür waren weniger wichtig: ein Kalb des jüngeren Bruders war herumgestreunt und hatte einen nicht un bedeutenden Teil des Maisfeldes des älteren Bruders gefressen. Sie waren leicht verärgert und stritten sich. Zunächst sah es so aus, als sei die Sache erledigt.

Doch dem war nicht so. Plötzlich sprachen sie nicht mehr miteinander. Sie vermieden es, einander im Laden oder auf der Straße anzutreffen. Sie taten so, als kennten sie sich nicht.

Eines Tages erschien ein Zimmermann auf Arbeitssuche auf dem Hof des älteren Bruders. Dieser sah ihn von oben bis unten an und sagte ihm mit mancher Traurig keit in der Stimme: »Siehst du den Bach, der da unten entlang fließt? Er ist die Grenze zwischen meinem Bauernhof und dem meines Bruders. Baue mit all dem Holz, das du in diesem Wäldchen findest, einen sehr hohen Zaun, so dass ich nicht mehr gezwungen bin, meinen Bruder oder seinen Hof wiederzusehen. Auf diese Weise werde ich meinen Frieden finden.«

Der Zimmermann nahm den Job an, ergriff das Werk zeug und schritt ans Werk. In der Zwischenzeit ging der ältere Bruder in die Stadt, um sich um seine Geschäfte zu kümmern.

Als er spät am Tag zu seinem Hof zurückkehrte, war er bestürzt über das, was er sah. Der Zimmermann hatte keinen Zaun gebaut, sondern eine Brücke über den Bach, die nun beide Höfe miteinander verband.

Und er sah, wie sein jüngerer Bruder über die Brücke kam und sagte: »Bruder, nach all dem, was zwischen uns geschah, kann ich kaum glauben, dass du diese Brücke gebaut hast, um zu mir zurück zu finden. Du hast Recht; es ist Zeit, unseren Zwist zu beenden. Komm in meine Arme, Bruder!«

Und sie umarmten einander herzlich und versöhnten sich. Der eine Bruder fand seinen anderen Bruder wieder. Plötz lich sahen sie, dass sich der Zimmermann ent fernte. Sie riefen ihn: »He, Zimmermann! Bitte geh nicht weg. Bleibe ein paar Tage bei uns ... Du hast uns so viel Freude bereitet ... «

Doch der Zimmermann erwiderte: »Ich kann nicht bleiben. Weltweit müssen noch andere Brücken gebaut werden. Es gibt immer noch zu viele Menschen, die miteinander versöhnt werden müssen.« Und der Zimmer mann ging ruhig davon, bis er in einer fernen Kurve des Weges aus dem Blickfeld verschwand.

Die Welt und unser Land brauchen Brücken und Zimmermann-Menschen, die großzügig mithelfen, die Konflikte zu lösen und Brücken zu bauen, so dass wir uns über die Konflikte und Differenzen stellen können, die in der unfertigen Menschheit bestehen. Wir müssen immer und immer wieder lernen und einander lehren, als Brüder und Schwestern in Geschwisterlichkeit zu leben.

Vielleicht ist dies einer der dringendsten ethischen und menschlichen Imperative im gegenwärtigen historischen Augenblick.

Stille Revolutionen: Geselligkeit

Wir müssen Brücken bauen zwischen dem Leben und der Politik Mit dem Fall der Berliner Mauer im Jahr 1989 und dem des Sozialismus, der deren Kontrapunkt war (unabhängig von seinen schwer wiegenden inne ren Problemen), besetzte schließlich der Kapitalismus den gesamten Raum in Ökonomie und Politik. Mit Margaret Thatcher an der Macht in Großbritannien und Ronald Reagan in den Vereinigten Staaten bekam die Logik des Kapitalismus freie Bahn: die komplette Liberalisierung der Märkte, einhergehend mit dem Zusammenbruch jeglicher Kontrollen, der Einführung des minimalistischen Staates, der Privatisierung und dem grenzenlosen Wettbewerb.

Die sogenannte »glückliche Globalisierung« war nicht so glücklich. Der Nobelpreisträger Joseph E. Stiglitz schrieb im Jahr 2011: »Nur 1 Prozent der sehr Reichen lenken die Wirtschaft und alle essentiellen Funktionen unseres Pla neten so, dass diese ihren eigenen Interessen dienen.« Aus diesem Grund prahlte der Spekulant und Multi milliardär Warren Buffett in der New York Times: »Es herrscht Klassenkrieg, richtig, aber es ist meine Klasse, die Klasse der Reichen, die Krieg führt, und wir gewinnen.«

Wie es der Zufall will, gelingt es all den Reichen nicht, den Faktor Ökologie in ihre Kalkulationen einzubeziehen. Vielmehr erachten sie die Schätze und Dienste der Natur als wertlose Äußerlichkeiten. Parallel zur globalen Hegemonie des kapitalistischen Systems entstanden überall stille Revolutionen. Sie sind die Basisgruppen, Wissenschaftler und andere um die Ökologie besorgte Personen, die alternative Weisen zu den bisherigen lehren, unseren Planeten Erde zu bewohnen. Sollte die Erde weiterhin erbarmungslos gestresst werden, könnte sie sich verändern und ein Ungleichgewicht erreichen, welches in der Lage wäre, einen Großteil unserer Zivilisation zu zerstören. In solch dramatischem Kontext entstand die Bewegung »The Coexistence« aus Gruppen, die inzwischen mehr als 3.200 Menschen weltweit zählen (siehe http://www.lesconvivialistes.org ). Es geht ihnen um das Zusammenleben (daher der Name Koexistenz), wobei man sich umeinander und um die Natur kümmert, ohne Konflikte zu leugnen, doch diese zu Faktoren von Dynamik und Kreativität zu machen. Es ist dies eine Win-Win-Politik.

Vier Prinzipien stützen dieses Projekt:

Das Prinzip gemeinsamer Menschlichkeit. Trotz all unserer Unterschiedlichkeit formen wir eine einzige Menschheit, die in Einheit gehalten werden muss.

Das Prinzip gemeinsamer Sozialität: das menschliche Wesen ist sozial und lebt in verschiedenen Gesellschaftssystemen, deren Unterschiede respektiert werden müssen.

Das Prinzip der Individualität: Auch als soziales Wesen hat jeder Mensch das Recht, seine Individualität und seine Einzigartigkeit zu bekräftigen, ohne dadurch den/die anderen zu schaden.

Das Prinzip der verordneten und kreativen Opposition: wer anders ist, kann auf legitime Weise opponieren, muss jedoch stets darauf achten, aus dem Unterschied keine Ungleichheit zu machen.

Diese Prinzipien implizieren ethische, politische, ökonomische und ökologische Konsequenzen, die wir hier nicht detailliert aufführen.

Wichtig ist, anzufangen: von unten zu starten mit Bio-Regionalismus, mit kleinen Einheiten ökologischer Produktion, mit der Generierung von Energie durch Abfall, mit einem Sinn für Selbstbeschränkung und für das rechte Maß, in bescheidenem Maß zu konsumieren und miteinander zu teilen.

Heutzutage ist es besonders wichtig, Geselligkeit zu betonen, denn zurzeit gibt es viele, die kein Zusammen leben mehr anstreben.

Geselligkeit als Konzept wurde von Ivan Illich (1926 –2002) in seinem Buch »Werkzeuge zur Geselligkeit« ( Tools for Conviviality, 1973) in Umlauf gebracht. Illich war einer der großen Vordenker des 20. Jahrhun derts. Als Österreicher lebte er die meiste Zeit seines Lebens in Süd- und Nordamerika. Für ihn bestand Geselligkeit aus der Fähigkeit, die Dimensionen der Produktion und der Achtsamkeit, der Effizienz und des Mitgefühls, der Massenproduktion und der Kreativität, der Freiheit und der Fantasie, des multidimensionalen Gleichgewichts und der sozialen Komplexität koexistieren zu lassen: Sie alle sollen den Sinn für die universelle Zugehörigkeit bestärken.

Geselligkeit beansprucht für sich auch, eine angemessene Antwort auf die ökologische Krise zu sein. Geselligkeit kann einen wirklichen Zusammenbruch des Planeten verhindern.

Es wird einen neuen natürlichen Bund mit der Erde und einen sozialen Bund unter den Völkern geben. Der erste Paragraph des neuen Bundes wird das geheiligte Prinzip der Selbstbeschränkung und des rechten Maßes sein; danach geht es um die essentielle Achtsamkeit aller, die existieren und leben, um Freundlichkeit zu den Menschen und um Respekt für Mutter Erde. Es ist möglich, eine gute Gesellschaft zu organisieren, eine Erde der guten Hoffnung, wo Menschen Kooperation und Teilen dem Wettbewerb und grenzenlosem Anhäufen von Eigentum vorziehen.

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ein Artikel von

Leonardo Boff

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