Wie viele Menschheiten gibt es? Genau eine.
Fast jede Übergangsphase schmerzt. Wer ein genügend gutes Gedächtnis hat, weiß das vom eigenen Erwachsenwerden. Dass eine Geburt schmerzt und anstrengend ist, das wird wohl jede Mutter bestätigen.
Wie viele Menschheiten gibt es? Genau eine.
Gewohnte Muster schreiben teils willkürliche, teils kurzsichtige Einteilungen der Menschen in Ethnien, in Religionszugehörigkeit und – mit den bekannten Zusatzanforderungen – auch in Geschlechter vor. Gleichheiten werden negiert. Gleichheiten: der Bedarf an Nahrung, Wasser, Behausung, die Notwendigkeit sozialer Kontakte, die Bedürfnisse nach Kommunikation, Entfaltung, emotionaler Bindung, nach Anerkennung, Geselligkeit, Schönheit, Musik, Bewegung; die Neugierde auf Andere und Anderes, das Balancespiel zwischen Tätigkeit und Ruhe, Nähe und Abgrenzung, Tradition und Erneuerung – und vieles mehr. Der Blickwinkel auf die überbordende Menge der Gleichheiten der Menschen macht jeden angeblich angeborenen Hierarchievorsprung und jeden Führungsanspruch per Biologie als willkürlich erkennbar.
Wie viele Menschheiten gibt es? Eine.
Trotzdem wird seit Jahrhunderten aufgrund biologischer oder Herkunftskriterien hierarchisiert: du (wer immer das gerade sein mag) bist a priori mehr wert als jene/r (wer immer das gerade sein mag). Die wissenschaftliche Disziplin der Genetik beweist inzwischen, dass die Unterschiede innerhalb der genetischen Ausstattung der Menschen einerseits zahlreich, andererseits aber zu geringfügig sind, als dass es wissenschaftlich haltbar wäre, von Rassen zu sprechen. Ebenso wenig wie es sinnvoll wäre von einer Rasse der getigerten Hauskatzen, der gefleckten Hauskatzen, der hellen, der braunen, der schwarzen und der grauen Hauskatzen zu sprechen.
Selbstverständlich: Geht es um den Einbau einer Heizungsanlage in ein Gebäude oder um guten Unterricht in einer Fremdsprache, so können anhand sachlicher Kriterien Personen als besser oder schlechter geeignet eingestuft werden. Was wäre aber der Gewinn sachferner, willkürlicher Hierarchisierung? Was ermöglichen platte Unterscheidungskriterien, platte Einteilungen? Was bewirken sie?
Es gibt innerhalb der Gene (legt der Genforscher, Universitätsprofessor und Mediziner Joachim Bauer in seinem Buch »Das kooperative Gen« dar ) »Schläfer«, die aktiv werden, wenn die Umstände es erfordern. Wie sonst gäbe es in so kurzer Zeit immer wieder resistente Keime in Spitälern? Da die jeweils aktuelle Umgebung starken Einf luss darauf hat, wie ein Mensch welche Eigenschaften entwickelt, ist das Ranking, also die ständige Anordnung auf einer Werteskala mit Absolutheitsanspruch, Unsinn. Selbst ähnliche Umgebungen sind nie absolut gleich.
Wie viele Menschheiten gibt es? Genau eine.
Es geht nicht darum, historisch-schuldhaftes Verhalten zu quantifizieren und gegenseitig aufzurechnen, weil die Anderen angeblich anders sind. Wir brauchen Frieden. Alle. Jetzt.
Wie viele Menschheiten gibt es? Eine.
Es gibt nur eine Menschheit. Wir sind diese Menschheit. Wo auch immer ein Menschenwesen auftaucht, lebt, arbeitet, lernt, lacht oder nichts tut, es gehört zu uns als Menschheit. Vielleicht erleben wir momentan die Geburtswehen dieser Erkenntnis.
Es gibt nur eine Menschheit.
Es geht nicht darum, zu trennen. Es geht darum, diese Erde zu erhalten und sie gemeinsam möglichst behaglich zu bewohnen. Es gibt nur einen Planeten Erde. Es gibt nur eine Menschheit.
Elisabeth Schrattenholzer
Menschen sind erst zu verstehen, wenn man sie nicht als Individuen konzipiert, sondern als Schnittstellen in einem sozialen Netzwerk. Nichts anderes bedeutet: Connectedness. Was immer schon da ist, muss nicht erst künstlich, mühevoll oder durch Training erzeugt werden. Es genügt, mit der Zerstörung der Beziehungen aufzuhören, die auf Effizienz und individuelle Optimierung ausgelegte Institutionen wie Schulen und Universitäten heute permanent praktizieren. Im Moment erleben wir hoffentlich den Kulminationspunkt eines durch und durch falschen gesellschaftlichen Entwicklungsmodells, das mit stetig steigernder Geschwindigkeit nicht nur die natürlichen, sondern auch die sozialen Ressourcen zerstört. Anhand vieler neuer oder wieder entdeckter sozialer Praktiken wie Gemeinschaftsgärten, Produktions- und Konsumgenossenschaften, Regionalwährungen etc. sind erste Ansätze zu einer Revolution des »Wir« erkennbar. Hoffen wir, dass sie sich zu einer sozialen Bewegung formieren werden, die die Apotheose des »Ich« noch rechtzeitig stoppen kann
Harald Welzer, Die Revolution des »Wir«, in: Gerald Hüther, Christa Spannbauer: Connectedness. Warum wir ein neues Weltbild brauchen