Midas
Ich möchte Ihnen eine kleine Geschichte erzählen. Ich bin sicher, dass Sie sie kennen. Es ist die Geschichte von König Midas und geht so: König Midas war der König von Phrygien, das ist in der heutigen Türkei, und er hatte einen Wunsch frei bei den Göttern von damals. Er wünschte sich, dass alles, was er anfasste, auf der Stelle zu Gold werde. Aber bitte, sagten die Götter, es sei. Midas fasste einen Stuhl an, und schon war der aus Gold. Einen Teller. Gold. Einen Stein. Auch Gold. Super. Aber dann kriegte König Midas Hunger und wollte essen, ein Falafel oder ein Dönerkebab, und die wurden auch zu Gold, und er biss sich einen Zahn aus. Das Wasser war Gold in einem Glas aus Gold. Hilfe, brüllte König Midas, Götter, Irrtum, großer Irrtum, befreiet mich von diesem Fluch. Und weil die Götter damals gute Götter waren, sagten sie ihm, er solle im Fluss Paktolos baden, dann sei alles wieder gut, und tatsächlich, als König Midas aus dem Wasser stieg, konnte er sein Falafel essen und das Wasser trinken. Im Fluss Paktolos aber findet man heute noch Gold.
Dann war König Midas noch berühmt für seine Eselsohren. Das ist eine andere Geschichte. Er hatte wieder einmal über die Stränge geschlagen und sich über Apollo lustig gemacht, und der hexte ihm, sauer geworden, Eselsohren an. König Midas schämte sich entsetzlich und trug nur noch Turbane oder riesige Hüte. Er sagte niemandem, dass er Eselsohren hatte, aber irgendwie musste er es doch sagen, er wäre sonst geplatzt mit dem entsetzlichen Geheimnis, und so schlich er jede Nacht aufs Feld hinaus und grub ein tiefes Loch und flüsterte in dieses Loch: »König Midas hat Eselsohren!« und schaufelte das Loch schnell wieder zu. Niemand hat ihn je gehört, kein Mensch. Aber Schilf wuchs aus all den Löchern, und wenn der Wind wehte, flüsterte das Schilf: »König Midas hat Eselsohren!«, und das tut es heute noch, das Schilf, alles Schilf auf der Welt, und deshalb wissen wir, dass König Midas Eselsohren hat. Dass heute noch alle Midasse Eselsohren haben.
Urs Widmer, Das Geld, die Arbeit, die Angst, das Glück (Diogenes)
Die Macher
Mit dieser allgegenwärtigen Informationsmaschinerie und dem Einfluss der Schulen auf die ungeschützten Gehirne der minderjährigen Bevölkerung kann man auch kluge Menschen so täuschen, dass sie ihr eigenes Todesurteil bejubeln.
Viele Arbeiter sagen zum Beispiel »Das Geld arbeite«, obwohl nicht das Geld arbeitet, sondern sie. Arbeiter oder Angestellte sprechen nach, was sie gehört haben. Woher haben sie diesen Gedanken, der die Welt auf den Kopf stellt? Die Wirtschaftslehrer an den Schulen und Hochschulen behaupten dasselbe seit vielen Jahrzehnten. Sie sagen, der Boden, das Kapital und die Arbeit seien »Produktionsfaktoren« (»Macher«). Das Kapital macht nichts, der Boden macht nichts, die »Arbeit« macht nichts.
Die Arbeiter machen, die Angestellten machen, manche Unternehmer machen.
Was könnte der Grund sein für die Zählebigkeit solcher Verdrehungen? Der Grund könnte in der Wirkung liegen. Die Wirkung dieser Darstellung der Produktion ist, dass Arbeiter und Angestellte das Kapital bei der Produktion für wichtiger halten als sich selbst, obwohl sie das Kapital machen. Diese Bescheidenheit ist die Wirkung. Sie ist eine Eigenschaft von Untertanen.
Ernst Alexander Rauter
Rede an die Reichen
»Diese Güter gehören mir, / habe ich nicht das Recht, sie zu behalten?« // Gehören sie wirklich dir? / Woher hast du sie genommen? / Hast du sie von anderswo her / in die Welt mitgebracht? // Du verhältst dich wie einer, / der bei jedem Schauspielbesuch das Theaterhaus verriegelt. / Du willst anderen den Eintritt versperren, / damit du dein Vergnügen für dich allein hast. // Es ist so, als würdest du dir / das alleinige Anrecht auf ein Theaterstück nehmen, / das für die Allgemeinheit gespielt wird. // Genau so sind die Reichen: / Sie betrachten die Güter, die allen gehören, / als ihr privates Eigentum, / weil sie sich diese als erste angeeignet haben. // Den Hungernden gehört das Brot, das du für dich behältst; // den Nackten der Mantel, / den du in der Truhe versteckst; // den Armen das Geld, / das du vergräbst.
Basilius der Große ( 330 – 379 )