Wider die Menschlichkeit
Wider die Menschlichkeit
Brennstoff Nr. 62 | Heini Staudinger | 30.01.2024 | 3 Minuten

Menschenrechte mit Schlagseite

Die Jüdin Nelly Sachs konnte einmal sagen: „Ein Fremder trägt stets seine Heimat im Arm.“ Das ist wahr. In die Ferne zieht niemand freiwillig, nur getrieben. Und wie er dann aufgenommen wird, entscheidet über alles Weitere. Die Hunderttausenden, die wir jetzt wegschieben, werden in Verbitterung und Hass auf Europa in das Niemandsland ihrer Herkunft zurückkehren und, wenn sie überleben, genau diesen Eindruck den anderen am Ort ihrer Herkunft wiedergeben: „Da ist ein Land, das tut so, als ob es die Menschenrechte hütete. Glaubt ihnen kein Wort. Woran sie glauben, ist ihre Selbstgefällligkeit, ihre Arroganz und ihre Hartherzigkeit.“ Man könnte es auch mit Mahatma Gandhi sagen: „Ein christliches Europa hat es nie gegeben. Man verehrt dort nicht Gott, sondern nur das Geld.“ Das war um 1930.

„Und ebendeshalb“, fuhr Gandhi fort, „ist von diesem Kontinent ein Krieg nach dem anderen ausgegangen statt der Botschaft des Friedens.“

Akte des Mutes: Ohne Zivilcourage lebt die Freiheit nicht lange

Der unbekannte Hinterbänkler Karl Liebknecht überholte im Kriege die große Rosa Luxemburg und wurde zur Weltfigur, nicht durch eine besondere Leistung politischer Brillanz oder intellektueller Originalität, sondern einfach durch zwei Akte des Muts, allerdings ungeheuerlichen, einsamen, moralischen Muts: Am 2. Dezember 1914 stimmte er im Reichstag als einziger gegen die Bewilligung einer zweiten Kriegsanleihe – nur wer die Stimmung im damaligen Deutschland kennt, kann ermessen, was das bedeutete.

Und am 1. Mai 1916 begann er eine Ansprache auf einer Maidemonstration auf dem Potsdamer Platz in Berlin mit den Worten: „Nieder mit dem Krieg! Nieder mit der Regierung!“ Weiter kam er nicht. Schutzmänner überwältigten ihn und führten ihn ab, und für die nächsten zweieinhalb Jahre verschwand er im Zuchthaus. Aber die acht Worte hatten mehr bewirkt als die längste und glänzendste Rede. Als Liebknecht am 23. Oktober 1918 aus dem Zuchthaus kam, war er für ganz Deutschland und weit über Deutschland hinaus der verkörperte Protest gegen den Krieg und die verkörperte Revolution. Am 15. Jänner 1919 wurden beide, Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht, brutal ermordet.

Mord an Mut und Wahrheit

Beide waren ganz entschlossene Antimilitaristen und sie verkörperten in den Augen von Freund und Feind die deutsche Revolution. Sie waren ihre Symbole und mit ihnen erschlug man die Revolution. Der Mord an Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg war der Mord an überlegenem Mut und an überlegenem Geist, und er war der Mord an der unwiderlegbaren Wahrheit.

Aus: Sebastian Haffner, „Der Verrat, 1918/1919 – als Deutschland wurde, wie es ist“ … ein unglaublich spannendes Buch.

Marianne Liebknecht, eine Enkelin von Karl Liebknecht, ist regelmäßige Gästin unserer GEA-Akademie. Beim Pfingstsymposium war sie gerade wieder einmal da.

ein Artikel von

Teile deine Meinung auf