Weltbürger und Humanist
Weltbürger und Humanist
Brennstoff Nr. 65 | Dževad Karahasan | 17.01.2024 | 4 Minuten

Dževad Karahasan Sein Humanismus überlebte den Jugoslawienkrieg

Ein einzigartiges Seminar, - von meinem Bruder kam die Anregung. Zuerst schenkte mir Karli Karahasans Buch „Der Trost des Nachthimmels“, und da wir dann beide von diesem Buch so richtig begeistert waren, luden wir Dževad Karahasan zu uns in die GEA Akademie ein, dass er mit uns in einem Wochenend-Seminar über dieses Buch spreche. Teilnahmebedingung - jede/r Seminarteilnehmer/in müsse das Buch vorher gelesen haben.

Es ging so los - Jede/r von den ungefähr 30 Teilnehmern las zuerst einmal seine/ihre Lieblingsseite vor, und begründete, warum gerade diese Textstelle für ihn/sie so wertvoll sei. Wir hatten alle dasselbe Buch gelesen, und doch hatte man bei diesem Vorlesen das Gefühl, als hätte es viele Bücher gegeben, aus denen diese Lieblingsstellen stammten (in Wirklichkeit war s immer dasselbe Buch, aber viele LeserInnen)

Dževad erzählte und erklärte unermüdlich, in unendlicher Geduld und Weisheit, wie er zu diesem Buch kam und was es ihm bedeutete ...

Der Trost des Nachthimmels
Omar Chayyam, die Hauptfigur in diesem Roman, lebte vor fast tausend Jahren in Persien. Er war Mathematiker, Astronom, Astrologe, Kalenderreformer, Philosoph und Dichter, mit einem Wort ein Universalgelehrter, man könnt auch sagen, ein Universalgenie. Karahasan hatte alle verfügbaren Quellen studiert, so wusste er ziemlich alles über diese Zeit. Er wusste so viel über das Leben dieser Zeit, dass er den Figuren seines Romans zuschauen konnte, wie diese ins Teehaus gingen und ins Gespräch kamen. Dževad war in diesen Szenen so „daheim“, dass er seinen Romanfiguren zuhören konnte und „nur“ mehr schreiben musste, was diese miteinander sprachen.

Nun zurück zum Buch. Omar Chayyam versucht die Rätsel der Welt und des Lebens zu knacken. Er bringt es dabei weiter als alle seine Zeitgenossen, und doch plagt ihn immer wieder Trauer und Einsamkeit.

Und nun zu meiner Lieblingsstell
Am schlimmsten war vielleicht, dass er mit allen Menschen, die er verloren hatte, scheinbar normal sprach, dabei aber die Kluft spürte, die sie trennte Mussaffer hatte sich zum Beispiel entfernt, nachdem er ihn angeschrien hatte. Sie wohnten weiterhin im selben Haus, redeten miteinander und nachts beobachteten sie gemeinsam den Himmel. Aber es gab nicht mehr das, was er, Chayyam, den Trost des Nachthimmels genannt hatte. Wenn du den Nachthimmel lange genug beobachtest, begreifst du, dass jeder Stern allein und unendlich weit vom nächsten entfernt ist, aber dass sie alle einem Gesetz unterliegen und dass dieses Gesetz ihre Einsamkeit aufhebt. Es verbindet sie, stellt Beziehungen zwischen ihnen her, es beginnt ein Gespräch unter ihnen, selbst wenn sie sich dessen nicht bewusst sind. So muss es auch mit den Menschen sein, hatten er und Musaffer philosophiert. Wir sind tatsächlich allein und jeder für sich, aber wir wissen, dass es ein Gesetz gibt, das uns verbindet, weil wir ihm alle unterliegen. Solange es existiert, solange es uns verbindet, sprechen wir mit unseren unbekannten Brüdern. In letzter Zeit, nach jenem Ausfall von ihm, hatten er und Musaffer zweimal zusammen den Nachthimmel beobachtet, aber sie hatten nicht so miteinander geredet. Sie hatten geredet, aber nicht so.

Dževad Karahasan ist heuer im Mai gestorben. Ein Freund hat mir erzählt, dass er die Krebsbehandlung verweigert habe. Als mich die Nachricht von seinem Tod erreichte, las ich „... ist im Alter von 70 Jahren verstorben“ ... eine Sekunde lang streifte mich ein Gedanke, der mir als Kind oder auch noch als Jugendlicher kam, - wenn ich damals hörte, dass jemand mit 70 gestorben sei, dachte ich mir „eh alt“ .... eine Sekunde später war mir klar, genauso alt bin ich.

Mit Dževad Karahasan verlieren wir, die noch Lebenden, einen wertvollen Zeitgenossen, einen Weltbürger und Humanisten, von denen es auf der Welt zu wenige gibt. Ich werde mein Leben lang dankbar sein, dass ich mit ihm einige Tage verbringen durfte. Zuerst die Tage vom Seminar in der GEA-Akademie und dann auch noch die Begegnung in seiner Heimatstadt Sarajevo.

Jetzt, wo er, der weise Denker und Dichter, tot ist, liegt es an uns, sein Vermächtnis von Güte und Humanismus weiter zu tragen. Danke Dževad.

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Dževad Karahasan

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