Über die Unbelehrbaren!
Über die Unbelehrbaren!
Brennstoff Nr. 61 | Thomas Bruckner | 30.01.2024 | 7 Minuten

Bei psychologischen Experimenten werden jene Probanden, die sich Autoritäten widersetzen, zumeist als positiv bewertet. Die Wirklichkeit außerhalb des Labors …?

Es waren lediglich vier Sätze. Vier nüchtern und bestimmt ausgesprochene simple Anweisungen, geäußert von einer Autoritätsperson, die ganz normale Bürger dazu verführten, einem unschuldigen Menschen, Stromstöße in lebensbedrohlicher Stärke zuzufügen. Familienväter, Studenten, Frauen wie Männer, Schwarze und Weiße, Personen unabhängig von ihrem Bildungsstand und Sozialstatus. Per Zeitungsannonce ausgesuchte unbescholtene Bürger, Menschen wie Sie und ich, verrieten innerhalb weniger Minuten ihre Ideale und Weltbilder, um zu gehorchen und nur ja nicht mit einer Respektsperson in Konflikt zu geraten.

Die Rahmenbedingungen des Experiments waren simpel. Zwei Schauspieler, von denen einer den Versuchsleiter und somit eine Autorität mimte und der andere einen „Schüler“ spielte. Die dritte Person, ein immerzu ahnungsloser Versuchsteilnehmer, übernahm die Rolle des „Lehrers“. „Wir wollen untersuchen, wie Bestrafungen und Lernverhalten zusammenhängen“, erklärte der Versuchsleiter und dass er, der Lehrer, jeden Fehler des „Schülers“ mit einem Stromschlag ahnden müsse. Alles begann harmlos. Der Schüler wiederholte die Wortgruppen korrekt, nur hin und wieder passierte ein Fehler. Die verabreichten Stromstöße, 15 Volt, dann 30 Volt – lächerlich, bloß ein leichtes Kitzeln. Es herrschte lockere Stimmung. Doch die Fehler häuften sich. 45 Volt. 60 Volt. Und schon wieder was falsch. Als 90 Volt durch den Körper des Schülers jagten, stöhnte dieser erstmals leise vor Schmerz.

Nein, bitte nicht!
Und gleich darauf vergaß er wieder ein Wort bei der Wiederholung. 105 Volt. „Nein, bitte nicht“, schreit er jetzt, „ich will nicht mehr!“ Und spätestens hier zögerten die meisten Probanden erstmals. „Bitte fahren sie fort!“, lautete da die Aufforderung vom Versuchsleiter, „Das Experiment fordert, dass sie weitermachen!“ Mehr nicht, nur diese simplen Sätze. Und fast alle setzten fort. 150 Volt. 200 Volt. Und verdammt jetzt hat er sich schon wieder ein Wort nicht gemerkt. „Bitte nicht! Ich will raus!“, schrie jetzt der Schüler. Schweißperlen standen auf den Stirnen vieler Probanden, manche begannen eigenartig zu lachen, andere baten den Versuchsleiter doch endlich aufhören zu dürfen, letztlich aber drückte der Großteil der Probanden weitere Male diese Knöpfe, jagte wieder und wieder Stromstöße durch den Körper des Unbelehrbaren.

Nur noch Stille
Ab 300 Volt, verstummte der Gequälte. Kein Jammern mehr. Kein Flehen. Kein Stöhnen. Nur noch Stille. „Es ist absolut notwendig, dass Sie weitermachen!“ Und, „Sie haben keine Wahl, Sie müssen weitermachen!“, stellte der Versuchsleiter klar. Und man will es nicht glauben, aber einige hörten selbst da noch nicht auf, der Autoritätsperson zu gehorchen, verpassten dem bereits verstummten und mutmaßlich bereits toten Körper weitere Stromstöße. Bis das der Projektleiter abbrach, sich beim Probanden bedankte, ihn beruhigte, dass alles nur Fake war, die Stromstöße, die Schreie und der Schüler bloß ein Schauspieler. Alles nur Fake. Das Milgram-Projekt war ein teuflisches Experiment. Ein weltbekanntes, viel kritisiertes, eines, das das Phänomen von Autorität und Gehorsam untersuchte und dessen Ausgang niemand voraussah.

Zwei Drittel : ein Drittel
65 Prozent der Menschen folgten der Autoritätsperson bis zum bitteren Ende. Lediglich 35 Prozent widersetzten sich und waren bereit „Nein“ zu sagen. Ein Drittel Widerständler, mehr nicht. Das Experiment wurde weltweit zigmal wiederholt, und immer das gleiche Ergebnis – 62 bis 65 Prozent von uns befolgen Anweisungen von Autoritätspersonen bis zu dem Punkt an dem wir andere Personen töten würden.

In den 60er Jahren untersuchten die amerikanischen Psychologen John Darley und Bob Latane das Verhalten einzelner Personen in prekären Gruppensituationen. Anders als bei Milgram untersuchte man bei diesem Experiment nicht den Gehorsam gegenüber einer einzelnen Person sondern inwieweit in einer Gruppensituation das Verhalten anderer das eigene Verhalten beeinflussen. Ausgangspunkt für diese Fragestellungen war ein bestialisches Verbrechen, das 1964 in New York passiert war, der Mord an der 28-jährigen Catherine Genovese. Und deren anschließende Schändung. Zumindest 38 Menschen waren Zeugen des Vorfalls. Hilfeschreie der jungen Frau hallten durch die finstere Nacht. „Oh, mein Gott! Er bringt mich um! Hilfe! Bitte! Hilfe!“ Es war weit nach Mitternacht. Ringsum gingen die Lichter an. Menschen schauten aus den Fenstern, sahen die anderen hell erleuchteten Wohnungen, und unten auf der Straße einen Mann, der wie von Sinnen auf eine, bereits am Boden liegende, Frau einsticht. Und anschließend die blutverschmierte Leiche missbrauchte. Das Verbrechen dauerte 35 Minuten. Niemand schritt ein, niemand half der wehrlosen Frau. Niemand rief die Polizei. Man fragt sich, wie ist so etwas möglich? Was zur Hölle war da los, mit diesen Menschen?

Fragen
Fragen, die sich auch die beiden amerikanischen Psychologen Darley und Latane stellten. Um Antworten zu finden führten sie eine Reihe von Experimenten durch. Eines davon war dieses: Drei Menschen wurde aufgetragen, in einem engen Raum Fragebögen auszufüllen. Zwei der drei Teilnehmer waren in das Experiment involviert. Nach einigen Minuten strömte echt erscheinender Rauch in den Raum. Zuerst nur wenig, bald dann aber mehr und mehr. Für jedermann musste ersichtlich sein, dass hier etwas nicht stimmt. Wie im Vorfeld vereinbart taten die beiden involvierten Personen nichts, taten bloß so, als ob alles in bester Ordnung wäre. Fragen ob der Rauchentwicklung beantworteten sie lediglich mit gleichmütigem Schulterzucken. Nun, wie reagierten die Probanden? Schlugen sie Alarm? Flüchteten sie vor der möglichen Gefahr? Immerhin ging es auch um ihr eigenes Leben! Hier die Antwort.

Die meisten machten nichts
Die meisten machten nichts. Sie schmeckten den Rauch in ihrem Mund, husteten, wirkten beunruhigt, waren am Zweiflen, füllten letztlich aber weiterhin den Fragebogen aus, so lange bis der Versuchsleiter das Experiment abbrach. Nach einer Reihe ähnlicher Experimente kamen Darley und Latane zu dem Schluss, dass nur eine Minderheit bereit war zu handeln. Rund 30 Prozent übernahmen Verantwortung, ähnlich den 35 %, die in Milgrams Projekt ungehorsam waren. Natürlich sind diese Zahlen nicht in Stein gemeißelt. Änderte man bei den Versuchen die Rahmenbedingungen, änderte sich auch das Ergebnis. Saßen die Probanden zum Beispiel alleine im Raum, deuteten sie den Rauch fast immer als Notsituation und schlugen Alarm. Mussten die Versuchspersonen beim Milgram-Experiment die Stromschläge verabreichen, indem sie die Hand des „Lernenden“ auf eine Metallplatte drücken, sank deren Gehorsam ein wenig. Wissenschaft spielt eben auch mit Einflussfaktoren und versucht dadurch Kausalitäten auf die Spur zu kommen. Sie zoomt eine Problematik heraus, betrachtet diese quasi mit der Lupe, reduziert dadurch die Einflussfaktoren auf ein überschaubares Maß und findet so Wahrheiten. Wahrheiten, welche im Labor und künstlich geschaffenen Situationen aufgrund reduzierter Einflüsse zu 100% ihre Gültigkeit haben – und im besten Fall auch Aussagekraft für das echte Leben.

Einstein an Freud
„Die Minderheit der jeweils Herrschenden hat vor allem die Schule, die Presse und meistens auch die religiösen Organisationen in ihrer Hand. Durch diese Mittel beherrscht und leitet sie die Gefühle der großen Masse und macht diese zu ihrem willenlosen Werkzeuge“, schrieb im September 1932 einer der größten Physiker und Humanisten des vorigen Jahrhunderts in einem Brief.

Insbesondere der Umstand, dass sich die Masse durch die genannten Mittel bis zur Raserei und Selbstaufopferung entflammen lässt, und wie dies zu vermeiden wäre, wollte Albert Einstein vom Begründer der Psychoanalyse Sigmund Freud wissen. Dessen Antwort war komplex, und einige seiner Überlegungen schienen die Ergebnisse, der Jahrzehnte später durchgeführten und in diesem Text bereits beschriebenen wissenschaftlichen Experimente, vorwegzunehmen. Der überwiegende Teil der Menschen bedürfe Autoritäten, welche für sie Entscheidungen fälle, meinte Freud sinngemäß. Und, dass es für eine friedlichere Welt eine breitere Schicht selbständig denkender, der Einschüchterung unzugänglicher und nach Wahrheit ringender Menschen bedürfe. Lasst uns alle gemeinsam an diesem Vorhaben arbeiten!*

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Thomas Bruckner

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