Spiritualität und Sexualität
Spiritualität und Sexualität
Brennstoff Nr. 61 | Karl-Heinz Steinmetz | 30.01.2024 | 3 Minuten

Hildegard von Bingen erfreut sich großer Beliebtheit – bei Akademikern genauso wie beim Volk, nicht nur in deutschsprachigen Landen, sondern auch in Italien und Frankreich. Ihre breite Anschlussfähigkeit hat damit zu tun, dass Hildegard viele Facetten besitzt: sie war Theologin, Politikerin, Mystikerin, Komponistin und Medizinerin zugleich. Als achtjähriges Mädchen stieß sie zu einer spirituellen Frauen-Wohngemeinschaft; mit 38 wurde sie Leitfigur eines blühenden Frauenkonvents; mit 42 gründete sie schließlich ihre eigene Schreibwerkstatt. Ihre Werke behandeln theologische, ethische und medizinische Themen. Sie bieten ein Gesamtsystem der Integrativmedizin, für das sie zurecht berühmt ist, auch wenn nicht allen Hildegardfans die Säulen ihres Konzepts bekannt sind.

Gesundheitslehre – handfest und kosmisch
Für Hildegard muss man Gesundheit und Krankheit stets im großen Horizont reflektieren und dabei vier Dimensionen beachten: Zunächst geht es klarerweise um den Leib. Dass Hildegard für diesen Bereich ein reiches Heilpflanzenwissen und eine Ernährungslehre ausgearbeitet hat, ist hinreichend bekannt. Dass Hildegard aber auch Behandlungen am Herzen lagen, die ein europäische Gegenstück zum chinesischen Moxa bilden, wissen nur wenige. Aus ihrer Feder stammt ein Text über Kräuterglimmkegel aus getrocknetem Beifuß, die, auf Reflexpunkten aufgesetzt, Energie in Organfunktionskreise einbringen.

Stille auf Rezept
Für Hildegard gehört zur guten Behandlung freilich auch Psychosomatik immer mit dazu. Die Äbtissin zeigt in ihren Schriften, dass negative Emotionen wie Neid oder Verbitterung, wenn therapeutisch nicht aufgearbeitet und entschärft, schädigend auf Leber oder Gallenblase schlagen können. Drittens denkt Hildegard in ihrer Gesundheitslehre kosmisch, was gerade heute von Relevanz ist: Will der Mensch gesund bleiben, so kann er es sich auf Dauer nicht leisten, an den Rhythmen von Sonne und Mond – den Jahreszeiten oder dem Wechsel von Tag und Nacht – vorbeizuleben. Wir sind aufgerufen, mit Naturrhythmen in Resonanz zu treten. Schließlich schärft Hildegard die spirituelle Wurzel von Gesundheit ein: Wirklich heil werden und bleiben kann nur, wer aus einer göttlichen Kraftquelle lebt. Die Betonung der Meditation als therapeutischer Option ist für eine Nonne keine Überraschung; allerdings verschreibt sie Hildegard allen Menschen, gerade auch den Laien.

Unsere Temperamente
Die Hildegardmedizin der letzten fünfzig Jahre war zum Teil auch eine Marketingerfindung. So sucht man die in der Tat wohlschmeckenden Nervenkekse, um ein Beispiel zu bemühen, in den Originalschriften vergeblich. Was man hingegen in Hildegards Handschriften findet, ist eine erstaunliche Sensibilität für Gender-Medizin sowie eine Würdigung der Leiblichkeit und Sexualität. Die heilkundige Äbtissin weiß natürlich um die unterschiedliche Wirkung von Heilpflanzen auf die Frau im Unterschied zum Mann, was die heutige Gender-Medizin langsam erst wiederentdeckt. Und Hildegard beschreibt die menschliche Sexualität mit einer charmanten Leichtigkeit, aus der Warte des männlichen wie weiblichen Geschlechts. Sie macht sich Gedanken über den Zusammenhang zwischen Menstruation und Emotion sowie über die weibliche Libido.

Auf dem Hintergrund der Humoralmedizin, der Lehre der Vier Temperamente, beschreibt sie treffsicher, wie Frauen und Männer jeweils ihr Liebes- und Sexualleben gestalten: Leitthema der luftigen SanguinikerIn lautet Spiel und Spaß. Die feurige CholerikerIn lebt ihre heiße Leidenschaft. Die erdige MelancholikerIn bzw. ist zurückhaltend und liebt die raffinierte Inszenierung. Die PhlegmatikerIn, Element Wasser, geht eher cool-gemütlich an die Sache heran und genießt Streicheleinheiten.

Und so zeigt sich, dass Hildegards Gesundheitslehre so viel mehr kann als nur „Kräuter“ und vermeintliche „Küchengifte“. Ihre Werke sind eine stets neue Inspirationsquelle auf allen Ebenen.

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ein Artikel von

Karl-Heinz Steinmetz

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