Revolution der Zärtlichkeit I
Revolution der Zärtlichkeit I
Brennstoff Nr. 48 | Konstantin Wecker | 13.02.2024 | 6 Minuten

Der unbeugsame Jean Ziegler nennt die Zivilgesellschaft eine »mysteriöse Bruderschaft der Nacht«, die aus all den vielfältigen Bewegungen zusammenge setzt ist, die an ganz verschiedenen Fronten gegen die kannibalische Weltordnung und gegen die Staatsraison Widerstand leisten.

Ich nenne es manchmal den Aufstand der Leisen, der deshalb auch keine wirkliche mediale Beachtung findet, aber dennoch ein Aufstand ist. Vielleicht sogar eine Revolution. Eine Revolution der Zärtlichkeit. Eine spirituelle Revolution. Eine Revolution des Mitgefühls in einer Zeit, in der soziopathische Machos die Welt bestimmen.

Hass kann man nie mit Hass besiegen, sagt der Buddha. Hass kann man nur mit Liebe besiegen. Und die Liebenden gibt es, ja, ich wage zu behaupten, sie werden mehr, aber sie dürfen nicht wahrgenom men werden in unserer materialistischen, von der Profitlogik getriebenen Gesellschaft, deren Credo zu sein scheint: der Mensch ist ein Wolf unter Wölfen.

Ja, es sind diese Leisen, oftmals Unbeachteten, nicht Eitlen, die ohne ideologischen Überbau ihr Herz entdecken und erahnen – manche haben es vielleicht schon tief in sich erfahren –, dass wir alle zusam men gehören und eins sind, mögen wir uns noch so bekriegen und abschlachten.

Bei Dorothee Sölle (in ihrem nicht hoch genug zu lo benden Buch »Mystik und Widerstand«) habe ich dieses Zitat von Wendell Berry gelesen: »So, wie wir sind, sind wir Teile [ Mitglieder, engl. members ] von jedem Anderen. Wir alle. Alles. Der Unterschied besteht nicht darin, wer ein Mitglied ist und wer nicht, sondern da rin, wer es weiß und wer nicht.«

Vielleicht haben wir erst dann, wenn wir es wissen, das Recht, uns selbst und uns alle in die Pflicht zu nehmen. Vielleicht können wir dann erst selbst entscheiden, weil erst dann wirklich unser Selbst und nicht unser hin und her gerissenes, ständig fremd bestimmtes Ego entscheidet. Eine solche Verpf lichtung kann man allerdings wohl nur sich selbst auferlegen, man kann sie nicht anderen besserwisserisch abverlangen.

Das heißt nicht, dass wir uns nicht wehren dürfen, ja müssen, gegen ungerechte, unbewusste Attacken auf die Lebendigkeit, das Miteinander-Sein, das Füreinan- der Fühlen. Aber ich wehre mich erst dann aufrichtig und mit ganzem Herzen, wenn ich die Verursachung

des Leides nicht als etwas sehe, das außerhalb meiner Selbst liegt. Erst wenn ich den Verursacher nicht für schuldig und von mir getrennt halte, sondern für jemanden, der auf sich nehmen musste, was mir erspart bleibt, beginne ich frei zu denken und zu entscheiden.

Thich Nhat Hanh, der 1926 geborene vietnamesische Mönch, Zen-Meister und Poet, schreibt von einem 12- jährigen Flüchtlingsmädchen, das auf der Flucht von einem Piraten vergewaltigt wurde. Darauf hin ertränkte das Mädchen sich im Ozean.

»Wenn Sie so etwas erfahren, werden Sie zunächst sicher Wut gegenüber dem Piraten empfinden. Sie stellen sich natürlich auf die Seite des Mädchens. Wenn Sie tiefer schauen, werden Sie es allmählich anders sehen. Stellen Sie sich auf die Seite des Mädchens, ist es einfach. Sie brauchen nur ein Gewehr zu nehmen und den Piraten zu erschießen. Aber das können wir nicht tun. Ich sah in der Meditation, dass ich selbst ein Pirat wäre, wenn ich in seinem Dorf geboren und unter denselben Bedingungen aufgewachsen wäre wie er. Es ist sehr wahrscheinlich, dass ich dann auch Pirat geworden wäre. Ich kann mich aber selbst nicht so einfach verdammen. In meiner Meditation habe ich gesehen, dass viele Kinder, Hunderte am Tag, entlang des Golfs von Siam geboren werden. Und wenn wir Erzieher und Sozialarbeiterinnen, Politiker und Politikerinnen nichts an der Situation ändern, werden in 25 Jahren eine Reihe von ihnen ebenfalls Piraten sein. Das ist gewiss. Wenn Sie oder ich heute in diesen Fischerdörfern geboren würden, wären wir möglicherweise in 25 Jahren auch Seepiraten. Wenn Sie ein Gewehr nehmen und den Piraten erschießen, erschießen Sie uns alle; denn wir alle sind in gewissem Umfang für diesen Zustand verantwortlich.«

Freiheit kann nicht heißen, andere verantwortlich zu machen für das, was uns geschieht, es bedeutet, die Verantwortung dafür selbst zu übernehmen. Nur aus dieser Erkenntnis heraus beenden wir das Moralisieren, das uns immer wieder dem (gerechtfertigten) Verdacht aussetzt, nicht selbst zu entscheiden, sondern Vorurteile und Dogmen für uns entscheiden zu lassen.

Nicht das Schlechtsein der Anderen verleiht uns ein Gütesiegel. Wenn wir Gutes tun wollen und können, dann nur, wenn wir nicht reagieren, sondern agieren. Und vor allem nicht, weil wir uns an einem schlechten Gegenüber hochranken müssen. Im Gegensatz zu den allermeisten Politikern des Erdballs haben das viele in der von Jean Ziegler beschworenen »Zivilgesellschaft«

verinnerlicht.

»Es geht ums Tun und nicht ums Siegen« habe ich in Erinnerung an Sophie Scholl in meinem Lied über die »Weiße Rose« geschrieben. Darum sollte es uns nun allen gehen. Denn nur durch »tätiges Mitgefühl« (Albert Schweitzer) können wir der Verrohung entgegentreten, mehr noch, dadurch können wir einen für uns alle begehbaren Weg aufzeigen, denn die Wege der Krieger und Gierhälse sind uns doch sowieso alle versperrt. Sie töten mit Drohnen und anderen Hightechmordinstrumenten, sie töten in den Vorstandsetagen der Banken und Konzerne, in ihren Geldvermehrungstempeln an der Wall Street und in London und Genf; gegen uns sind ihre Tempel abgeschottet, gesichert, bewacht. Nein, wir wollen dort auch gar nicht hin, in diese Sümpfe der Unmenschlichkeit, wir wollen nicht mit ihnen den Mammon und den Streit, die Niedertracht und den Hochmut anbeten. Selbst wenn wir wollten – zerstören können wir diese Hochsicherheitstrakte Gomorrhas nicht. Aber wir können sie mit unseren Ideen, unserer Phantasie, unserer Hilfsbereitschaft, unserer Zärtlichkeit und unserem Lachen in die Knie zwingen, getragen vom sicheren Wissen, dass der Mensch mehr ist, als es sich unsere Schulweisheit erträumen lässt: in seinem tiefsten Inneren angebunden ans Geistige.

Diese Revolution, deren Tore wir bereits geöffnet haben, braucht keine Führer und Dogmen, keine Ideologien und Pamphlete. Sie wird sich mit fühlenden Menschen vernetzen und das Leben neu erwecken.

1964 schrieb Erich Fromm: »Die Nekrophilie (…) ist genau jene Antwort auf das Leben, die im völligen Gegensatz zum Leben steht; sie ist die morbideste und gefährlichste unter allen Lebensorientierungen, deren der Mensch fähig ist. Sie ist eine echte Perversion: obwohl man lebendig ist, liebt man nicht das Lebendige, sondern das Tote. Nicht Wachstum sondern Destruktion.«

Fromm stellte der Nekrophilie, dem Angezogensein vom Leblosen und Zerstörerischen, die Biophilie, das Angezogensein vom Lebendigen und die Liebe zum Lebendigen gegenüber. Er fragte generell nach der Eigendynamik alles Lebenden und erkannte, dass diesem über das bloße Streben nach Überleben hinaus eine »Tendenz zur Integration und Vereinigung« eigentümlich ist.

Es sind die Nekrophilen, die derzeit das Weltgeschehen bestimmen. Kriege und Zerstörung der Erde, der Tiere und Pflanzen, alles Lebendigen eben, sind ihre Werkzeuge. Lassen wir uns nicht einschüchtern. Preisen wir das Leben, das Irdische wie das Himmlische, dem wir von Urbeginn an angehören.
Konstantin Wecker

Author Placeholder

ein Artikel von

Konstantin Wecker

Teile deine Meinung auf