Revolution
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Brennstoff Nr. 63 | Brennstoff Redaktion | 23.01.2024 | 5 Minuten

Jede Kampagne, die 3,5% hinter sich hatte und gewaltfrei war, war erfolgreich

Erica’s Geschichte beginnt im Jahr 2005. Erica hat damals an ihrer Doktorarbeit in Politikwissenschaften gearbeitet. Das Thema ihrer Doktorarbeit war, wie Gewalt eingesetzt wird, um politischen Wandel zu erreichen. Sie war jetzt nicht eine Gewalt-Fanatikerin, aber sie wollte wissen wie viel Gewalt braucht es denn genau, um zum Beispiel eine Regierung zu stürzen. Müssen Menschen sterben? Reicht es ein paar Autoreifen aufzustechen? Was braucht es?

Und im Zuge ihrer Arbeit wurde Erica auf einen Workshop eingeladen. Dieser Workshop wurde organisiert vom Zentrum für Gewaltfreiheit. Im Vorhinein wurde Erica eine Leseliste gegeben, wo dafür argumentiert wurde, dass Gewaltfreiheit das einzig legitime Mittel ist, um nach Veränderung zu streben. Erica war etwas skeptisch und als sie sich auf dem Workshop einfand, bestätigte sich ihre Befürchtung, die Quote an potentiellen Hippies war weit über ihrem Geschmack. Erica war dann auch gleich die erste, die sich meldete und sagte: „Ehm. Hallo! Danke für die Leseliste, sehr… inspirierend. Aber für jeden erfolgreichen Fall einer gewaltfreien Protestbewegung, den ihr hier erwähnt, kann ich mindestens einen Gescheiterten nennen. Mir fallen auch genug Fälle ein, wo Gewalt wunderbar funktioniert hat, wie bei der Algerischen Revolution, oder bei der Französischen oder der Russischen. Vielleicht funktioniert gewaltfreier Widerstand bei kleineren politischen Anliegen aber – bei bestem Willen - es kann nicht funktionieren, wenn du versuchst einen Diktator zu stürzen, wenn du einem rücksichtslosen Gegner gegenüberstehst.“

Erica hat keine neuen Freunde auf dem Workshop gefunden. Nach dem Workshop kommt allerdings eine Frau auf sie zu und sagt zu ihr: „Wenn du wirklich Recht hast, dass gewaltvoller Widerstand effektiver ist als gewaltfreier, dann beweis es.“

Und Erica dachte sich, na gut, das wird nicht schwer rauszufinden sein. Also fing Erica an zu recherchieren und fand – nichts. Da war keine einzige wissenschaftliche Arbeit. Gleichzeitig dachte sie sich: Naja, damit die Hippies mal einen Realitätscheck bekommen, sollte das ja wohl mal jemand machen. Deswegen hat sie in den nächsten zwei Jahren Daten zu allen großen gewaltvollen und gewaltlosen Kampagnen der letzten 100 Jahre gesammelt, die eine Regierung stürzen wollten. Die Daten decken die ganze Welt ab und bestehen aus jeder bekannten Kampagne, die aus mindestens 1000 Teilnehmer:innen bestand.

Dann hat sie die Daten analysiert und sie kam zu folgendem Ergebnis: Von 1900 bis 2006 waren gewaltfreie Kampagnen weltweit doppelt so erfolgreich wie gewaltvolle. Tendenz steigend. Das trifft auch zu, wenn die Bedingungen extrem unterdrückend und autoritär sind.

Erica war daraufhin – irritiert. Die Daten sprechen ihre eigene Sprache, daran war nicht zu rütteln, aber warum zur Hölle sollte zum Beispiel ein Diktator einfach zurücktreten, nur weil ein paar Menschen friedlich protestieren? Warum funktioniert das?

Gewaltfreie Aufstände sind beinahe doppelt so erfolgreich wie bewaffnete Revolutionen

Und Erica hat ihre Daten ein weiteres mal analysiert und noch einmal und noch einmal und schließlich fiel ihr etwas auf: Keine einzige Protestbewegung war gescheitert, wenn sie die aktive und aufrechte Unterstützung von 3,5% der Bevölkerung hatte. Und jede Bewegung, die mehr als 3,5% Unterstützung hatte, die war gewaltfrei gewesen. Also war jede Kampagne erfolgreich, die 3,5% der Bevölkerung hatte und gewaltfrei war. Gut, das ist jetzt wieder so ein Fakt, aber es stellt sich erneut die Frage: Warum? Warum 3,5%?

Die Antwort darauf ist explosiv und banal: Weil wir miteinander vernetzt sind. Wenn eine Bewegung es schafft, 3,5% der Bevölkerung zu vereinen, dann ist es statistisch gesehen unumgänglich, dass die Bewegung persönliche Verbindungen haben wird zu Sicherheitskräften, Beamten, Politiker, Medien und Unternehmer – also Menschen, die selbst nochmal mehr Macht haben. Diese Menschen werden ihre Loyalität gegenüber einer Regierung hinterfragen, sie werden auf Grund einer persönlichen Verbindung vielleicht selbst Teil der Bewegung.

Und diese Form der persönlichen Betroffenheit, die ist es, die das Fass zum Überlaufen bringt. Ein Beispiel dafür: Als in Serbien klar wurde, dass Hunderttausende nach Belgrad strömten, um Milosevic aufzufordern sein Amt niederzulegen, haben Polizist:innen den Befehl ignoriert, auf Demonstrant:innen zu schießen.

Auf die Frage nach dem Warum, antwortete einer: „Ich wusste, dass meine Kinder in der Menge sind.“ Das ist natürlich ein Extrem-Beispiel, aber wir alle kennen diesen Effekt doch auch auf einer kleineren Skala: Dieser Effekt, wenn sich bei einem Menschen die Perspektive dreht. Und Ericas wissenschaftliche Arbeit hat gezeigt, dass das auf gesellschaftlicher Ebene eintritt, wenn 3,5% der Bevölkerung auf die Straßen gehen.

Ein kleiner Workshop war der Auslöser dafür, dass sich Erica’s gesamtes Weltbild mal ebenso auf den Kopf stellte und sie fragte sich im Laufe Ihrer Arbeit: Wie konnte es sein, dass sie einfach intuitiv davon ausgegangen war, dass Gewalt funktioniert? Warum hat sie es einfach akzeptiert, dass der Weg aus gewissen Situationen eben nur durch Gewalt möglich ist? Weil sie Gewalt mit Mut verwechselt hatte. Weil ihr von klein auf beigebracht wurde, dass Helden von Schlachtfeldern eine Parade gewidmet wird, dass wir uns Geschichte an Hand von Kriegen erzählen.

Und Erica fragt sich seitdem: Wie unsere Welt wohl aussehen würde, wenn wir aufhören würden gegeneinander zu arbeiten, sondern darauf vertrauen, dass unsere persönlichen Beziehungen bindend sind. Was wäre, sagt sie, wenn wir anfangen würde aneinander zu glauben? Was wäre, wenn Ghandi und Martin Luther King die Basis unseres Geschichtsunterrichts wären. Was, wenn jedes Kind in der Grundschule mehr über die Suffragetten-Bewegung lernt als über Napoleon oder Julius Cäsar?

Was, wenn es Allgemeinwissen wäre, dass große Gruppen von Menschen, die auf Gewaltfreiheit setzen, Erfolg haben?

Was wäre, hm? Aber Erica, was machen wir jetzt?

Da ist ihre Antwort folgende: Ermutigt eure Kinder über das Erbe der Gewaltfreien Bewegungen zu lernen. Erkundet das Potential der Macht des Volkes. Denn egal ob in der nahen oder der fernen Zukunft, gewaltfreier Widerstand tendiert dazu Gesellschaften zu hinterlassen, die freier sind, friedvoller und gerechter.

Ende der Geschichte, - erzählt von Calle Fuhr

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