Parlament der Unsichtbaren
Parlament der Unsichtbaren
Brennstoff Nr. 46 | Eva Maria Bachinger, Martin Schenk | 15.02.2024 | 4 Minuten

Nicht wahrgenommen werden bedeutet ausgeschlossen sein.

WER DIE Fußball-Welt- und Europameisterschaft gesehen hat, hat bemerkt: Die Räume werden eng. Tag für Tag und Match für Match haben die Netzwerkanalytiker um den Soziologen Harald Katzmair den Spielverlauf verfolgt, die Passwege dokumentiert und die Spielkombinationen ausgewertet. »Was wir beobachten konnten, war eine generelle Versiegelung des Raumes«, sagt er. Über neunzig Minuten wurde alles so gründlich zugestellt, dass ein kreatives Kombinieren kaum mehr möglich war. Die Basis dafür bildete eine sichtbare Aufrüstung der Körper. Bis vor wenigen Jahren schienen austrainierte Oberkörper unter Fußballern eher Ausdruck persönlicher Eitelkeit zu sein, jetzt sind sie Bestandteil der Spielausstattung. Diese Renaissance des Heldenkörpers rückt den Spielmacher als Impulsgeber in den Hintergrund. »Die Körper prallten wie Projektile aufeinander«, so Katzmair. Der Heldenkörper verstellt und bemächtigt sich am Fußballplatz des Raumes.

Vielleicht hat das eine mit dem anderen nicht direkt etwas zu tun. Aber wir merken: Es wird ungemütlicher, autoritärer, mit weniger Luft und weniger Raum. Aber ausgemacht ist nichts. Die Kräfte, die den Raum besetzen und den Status quo beherrschen, sind nicht automatisch stärker gegenüber jenen Kräften, die sich auf die Suche nach dem Neuen und den offenen Räumen machen. Auch wenn es gerade für kreative SpielgestalterInnen und kooperative Impulsgebende nicht so gut auszusehen scheint. Diese Taktiken des zugestellten Raumes bei gleichzeitiger sozialer Distanz haben einen erheblichen Nachteil: Wir fühlen uns von der Welt und anderen Menschen getrennt. Eines ist immer möglich. Nämlich sich zusammenzutun und etwas zu wagen. Wann, wenn nicht jetzt? Es bleibt uns gar nichts anderes übrig, als Freiräume zu nützen und etwas auszuprobieren.

Wer der Perspektive, die andere bestimmen, ausgeliefert ist, ist fremd. Der Blickwinkel entscheidet. Wer bleibt unsichtbar, wer bekommt die Deutungsmacht? Medien erzählen Geschichten. Es ist nicht das Ereignis selbst, das Nachrichtenwert hat, sondern es ist die Geschichte, die sich damit erzählen lässt. Jeder Fernsehbericht ist ein kleines Dramolett; mit einem Rahmen, einer Handlung und bestimmten Rollen. Zwar ist der Text dem Rolleninhaber freigestellt, das Auswählen der Rollenträger, die Auswahl von Textausschnitten und ihr Montieren in die Handlung bleibt Aufgabe der Redaktion. Im Bild manifestiert sich deren Blick, diese eine Perspektive, die den Rahmen der Erzählung setzt. Der Rahmen wird durch eine Entscheidung gebildet: Wer besitzt Subjektstatus? Wer Subjekt ist, darf sprechen und besitzt die Deutungsmacht. So entstehen Handlungsanleitungen. Der Demokratietheoretiker Pierre Rosanvallon argumentiert, dass »nicht wahrgenommen werden ausgeschlossen sein bedeutet«. Deshalb sei heute die Sehnsucht nach einer gerechten Gesellschaft verbunden mit dem Wunsch nach Anerkennung. Und genau hier müsse eine Erneuerung der Demokratie ansetzen: bei jenen, deren Leben im Dunkeln bleibt, die nicht repräsentiert werden, die nicht sichtbar sind. Die Angst sitzt im Spalt zwischen »Was habe ich?« und »Wer bin ich?«.

In Paris gründete Rosanvallon ein »Parlament der Unsichtbaren«, das dazu dient, all die Geschichten und Lebensbiographien von Menschen zu erzählen, die sonst im Dunkeln geblieben wären: von Jugendlichen, die es schwer haben, von Arbeiterinnen im Niedriglohnsektor, vom alten Mann am Land. Die Unsichtbarkeit weist auf zwei Phänomene: einerseits auf das Vergessen, die Zurückweisung und die Vernachlässigung, andererseits auf die Unlesbarkeit der Verhältnisse. Für viele ist es schwierig geworden, die Gesellschaft noch zu lesen und sich selbst mittendrin. Das Projekt will dem Bedürfnis nach Erzählung der »gewöhnlichen« Lebensgeschichten, dem Anhören der ungehörten Stimmen und der Beachtung der alltäglichen Sehnsüchte nachgehen. »Es untergräbt die Demokratie, wenn die vielen leisen Stimmen ungehört bleiben, die ganz gewöhnlichen Existenzen vernachlässigt und die scheinbar banalen Lebensläufe missachtet werden«, so Rosanvallon.

Wer das Wort ergreift, hat etwas zu erzählen. Wer jemand ist oder war, können wir nur erfahren, wenn wir die Geschichte hören, deren Held er oder sie ist. Das Wort zu ergreifen, heißt nicht fürsprechen, sondern selbst sprechen. Wenn Ausgeschlossene die eigene Lebens welt sichtbar machen, schaffen sie einen Ort, von dem aus sie sprechen können. Der Vorhang öffnet sich zu einer Bühne, auf der die eigene Geschichte eine eigene Deutung – und zugleich Bedeutung – erfährt. Das Unspektakuläre des eigenen Lebens bekommt eine Bühne und wird besonders. Die, die das Wort ergreifen, können zur Sprache bringen, wer sie sind – und wer sie sein können.
Dieser Beitrag stammt aus dem E-Book von Eva Maria Bachinger und Martin Schenk: Wert und Würde. Ein Zwischenruf

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Eva Maria Bachinger, Martin Schenk

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