»Wir können mehr herstellen, als wir uns vorstellen und verantworten können«, sagt der Philosoph Günther Anders. Darum müssen wir das ausbilden, was er »moralische Phantasie« nennt. Nur diese kann das Un denk bare und Monströse unserer Erfindungen und deren Wirkungen denkbar und bewusst machen. Hier sind jene Tagesnotizen, in denen Anders zum ersten Mal darüber schreibt:
New York, 15. August 1944
»Siebentausend sind dabei umgekommen«, sagte sie. Dass wir uns selbst so gar nicht gewachsen sind. Mit einem einzigen Handgriff löschen wir Tausende aus. Und in gewissem Sinne verstehen wir sogar auch, was wir meinen, wenn wir die Ziffer aussprechen. Aber welche Seele ist der Tat, die »Siebentausend« heißt, und der Aussage »Siebentausend« gewachsen? Welche Reue enthält Siebentausend? Leicht gesagt, die Stadt soundso schwebe in Todesangst. Wer wäre fähig, die Summe dieser Angst in seinen Händen zu halten?
Ungleichgeschaltet sind wir mit uns selbst. Unsere Taten sind zu groß, als dass wir sie nachfühlen könnten. Unsere »Vermögen« haben verschiedene Fassungskraft, verschiedene Kapazität. Die Rede von der »Einheit der Persönlichkeit« ist zum Geschwätz geworden.
Sollte das in Ordnung sein, dass wir uns selbst so ungleich sind? Sollten wir nicht versuchen, uns gleich zu werden? Das, was wir anrichten können, auch fühlen zu können? Die Horizonte unserer Vermögen kongruent zu machen? Also die Kapazität des Fühlens auszuweiten?
Heutige Hauptaufgabe also: die Ausbildung der moralischen Phantasie.
New York, 16. August 1944
Keine Formel falscher als die klassische: »das Bewegen de ist größer als das Bewegte«. Denn wo gäbe es heute einen Produzierenden, der mit der Größe oder der Tragweite seiner Produkte oder seiner Taten in Wettbewerb treten könnte? Heute gilt vielmehr antiaristotelisch: »Das Bewegte ist größer als der Bewegende.« Fortschritt? Ausschließlich der des Abstandes zwischen uns, den Produzierenden, und unseren Produkten.
New York, 17. August 1944
Da unsere nackte Wahrnehmung für die Auffassung, der heutigen Welt nicht ausreicht, da sie für die enormen, richtiger: die monströsen Ausmaße dessen, was wir selbst anrichten können, zu kurzsichtig bleibt, da sie das Monströse in Unmonströses verwandelt, wird sie, wie widersinnig das auch klingen mag, zu einer Spielart von »Phantasie«. Wer glaubt, die Welt sei so, wie er sie wahrnehme, der phantasiert, weil er untertreibt. Denn nicht nur der Übertreibende phantasiert, sondern auch der Untertreibende.
Vielmehr haben wir, da die Wahrheit unserer monströsen Verhältnisse nicht ohne weiteres, also nicht mit nacktem Auge, wahrnehmbar ist, Phantasie zur Korrektur einzusetzen. Das heute erforderliche Phantasieren besteht also nicht mehr in dem, was wir uns bis heute darunter vorgestellt hatten: nicht mehr darin, dass wir das Wirkliche »überschwänglich« transzendieren, nicht mehr darin, dass wir uns Unwirkliches vorstellen oder uns Fabelwesen ausmalen – wer auch heute noch einen solchen Böcklin-Begriff von Phantasie weiterverwendet, der macht sich lächerlich. Umgekehrt hat Phantasieren heute darin zu bestehen, dass wir uns der heutigen effektiv phantastischen Wirklichkeit anmessen, dass wir diese angemessen auffassen. Kurz: Phantasie hat, da ihr Gegenstand: die phantastische Wirklichkeit, selbst phantastisch ist, als eine Methode der Empirie zu funktionieren, als Wahrnehmungsorgan für das tatsächlich Enorme, als ein Werkzeug, das zwar nicht, wie das Auge, an ein Stück Leib gebunden ist, »dafür« aber auch nicht an dessen Insuffizienz, nämlich an dessen Kurzsichtigkeit.
So wenig das Teleskop unsere Sehfähigkeit überflüssig macht, umgekehrt dort, wo es eingesetzt wird, unserem Hinblicken und Erkennen erst seine rechte Chance gibt, sowenig macht die Phantasie unsere Wahrnehmung überflüssig, vielmehr eben erst möglich und effizient.
Mindestens dasjenige Enorme müssten wir uns vorstellen können, das wir selbst herstellen und verschulden können. Auf die Vision anderer »Enormitäten«: der Unermesslichkeit von Gott und Welt, verzichte ich heute mit Handkuss, sich heute auf Metaphysik einzulassen, scheint mir einfach ungehörig, Theologie zu treiben, sogar blasphemisch. Nicht bereit bin ich dagegen, auf die Vision des Enormen, das anzurichten wir selbst, nämlich wir Menschen, fähig sind, und das wir faktisch angerichtet haben, zu verzichten: nämlich auf die Vision der Enormität unserer Untaten. Der Siebentausend.
Günther Anders, Tagesnotizen