Maßlosigkeit
Maßlosigkeit
Brennstoff Nr. 60 | Bernhard Ungericht | 02.02.2024 | 6 Minuten

Immer-mehr und Nie-genug! Eine kurze Geschichte der Maßlosigkeit

Im Jahr 1925 benannte Mahatma Gandhi sieben Sünden der modernen Gesellschaft, welche das Gemeinwohl schwer schädigen: Politik ohne Prinzipien, Reichtum ohne Arbeit, Genuss ohne Gewissen, Wissen ohne Charakter, Geschäft ohne Moral, Wissenschaft ohne Menschlichkeit, Religion ohne Opfer. In allen diesen „Sünden“ kommt eine ganz spezifische Geisteshaltung zum Ausdruck: Maßlosigkeit. Sie ist prägend für unsere Gesellschaft geworden, und so müssen wir heute von einer Kultur und einer Ökonomie der Maßlosigkeit sprechen.

Immer mehr Menschen spüren, dass etwas nicht stimmt. Es dämmert uns, dass etwas gefährlich aus dem Lot geraten ist. Warum gibt es ein Nebeneinander von obszönem Reichtum und erschreckendster Armut und warum wird das sogar weitgehend als normal betrachtet?

Warum gilt eine durch ökonomische Ungleichheit, Konkurrenz und soziale Hierarchie zerrissene Gesellschaft als Höhepunkt zivilisatorischer Entwicklung? Warum kann heute die Wirtschaft erfolgreich als moralfreie und von angeblichen ökonomischen Gesetzen beherrschte Sphäre dargestellt werden? Wie kommt es, dass die Wirtschaftswissenschaft als vernunftgeleitete Disziplin gilt, während gleichzeitig doch ihre grundlegenden theoretischen Annahmen und Empfehlungen die natürlichen Lebensgrundlagen systematisch bedrohen? Warum akzeptieren wir, dass junge Menschen an den Wirtschaftshochschulen alles über die Maximierung der Profite, die effiziente Ausbeutung von Arbeitskräften, die Manipulation von Konsumenten, den Verkauf von Nutzlosem oder die rücksichtslose Beseitigung von Mitbewerbern lernen, aber absolut nichts darüber, wie eine lebensdienliche Wirtschaft aussehen könnte? Was heute in ökonomischen Belangen als normal, vernünftig und vielleicht sogar legitim erscheint, hat eine erstaunliche und spannende Geschichte.

Reichtum ohne Arbeit – Geschäft ohne Moral.

Die Geschichte der Ökonomie der Maßlosigkeit beginnt vor fünftausend Jahren. In den sumerischen Stadtstaaten gelingt es einer kleinen Machtelite erstmals, ihren Willen zum Immer-mehr gegen den Widerstand der Mehrheit durchzusetzen.

Im Laufe der folgenden Jahrhunderte wurden Kredite und Schulden erfunden, radikale Vorstellungen von privatem Eigentum wurden in Gesetzesform gegossen und das Münzgeldwesen wurde von den Eliten verbreitet, um die antiken Eroberungskriege zu ermöglichen. Das Mittelalter fügte der Geschichte der Ökonomie der Maßlosigkeit ein weiteres Kapitel hinzu. Die Bankiers- und Händlerdynastien revolutionierten das ökonomische Denken und verhalfen dem Geschäft ohne Moral zum Durchbruch. Was bislang als schwere Sünde galt – das mitleidlose, kalte Kalkül – wird allmählich zur Tugend erklärt und die wichtigste Institution des Mittelalters, die Kirche, wechselte die Seite: Innerhalb kurzer Zeit verdrängte die Kirchen-Elite die Wurzeln ihres Glaubens und huldigten fortan selbst Mammon, dem Gott des Schätzesammelns. Auch der Mensch selbst und seine Wahrnehmung veränderten sich: Das neue – quantifizierende – Denken wird ab dem 14. Jahrhundert zur Grundlage der Beziehungen zwischen den Menschen und zwischen Mensch und Natur.

Zahlen werden nun zum privilegierten Medium der Wahrnehmung und der Bewertung der Welt. Für eine jede Zahl gilt aber, dass sie noch höher sein könnte – die Profitrate ebenso wie die Arbeitsproduktivität, der Ertrag pro Quadratmeter landwirtschaftlicher Fläche ebenso wie das Kilogewicht von Schlachttieren.

Und wenn es nie genug ist, so hat das Konsequenzen: Es müssen beständig neue Territorien erobert werden, es muss immer mehr Natur zerstört werden und immer mehr Menschen und immer mehr von ihrer Arbeitskraft muss ergriffen werden. In der Neuzeit überschreitet die Ökonomie der Maßlosigkeit kontinentale Grenzen und sie bringt erstmals Institutionen der Gier hervor: Börsen und Kapitalgesellschaften. Ihr ökonomisches Wirken ist nun nicht mehr an die beschränkte natürliche Lebenszeit menschlicher Akteure gebunden und sie entlasten gleichzeitig die „Investoren“ von allen moralischen Skrupeln.

Wissenschaft ohne Menschlichkeit, Wissen ohne Charakter

In der Neuzeit erblickte auch eine neue Wissenschaft das Licht der Welt: die Wirtschaftslehre. Auch sie ist ein Produkt der Ökonomie der Maßlosigkeit. Von den Oberschichten finanziert legitimierte diese neue „Wissenschaft“ von Anbeginn an das Geschäft ohne Moral und erklärte die Gier bald zur lobenswerten Triebkraft gesellschaftlicher Entwicklung. Die moderne Naturwissenschaft und die Wirtschaftslehre bildeten sich im 16. Jahrhundert heraus und beide verdrängten Mitgefühl und Menschlichkeit zugunsten von Verwertbarkeit und kalter Effizienz aus ihren Überlegungen.

Im Verlauf der letzten Jahrhunderte scheint uns das rechte Maß abhandengekommen zu sein. Heute sind wir eine Gesellschaft, die nicht nur immer mehr will, sondern auch vergisst, was verloren ging, und blind geworden ist für das, was auf dem Spiel steht. Wie wird die Geschichte weitergehen? Folgen wir diesem historischen Irrweg weiter? Monströse, maßlose Zukunftsprojekte zeichnen sich bereits deutlich ab: Weltraumbergbau, nahezu perfekte Überwachungs- und Gewalttechnologien, die verwertungsoptimierte Manipulation von Genen oder die Verschmelzung von Mensch und Technologie zu bislang nichtdenkbaren Mischwesen. Wir können jedoch auch den Pfad wechseln und Mahatma Gandhi gibt uns auch hier eine Richtschnur: Der Maßlosigkeit wäre eine kluge Selbstbeschränkung entgegen zu halten, ein Empfinden dafür, wann es genug ist. Es wäre eine Kultur der Genügsamkeit und des Maßhaltens, eine Kultur der Solidarität mit denen, die schlechter gestellt sind, und eine Kultur des Mitgefühls für alles Leben auf diesem Planeten. Es wäre ein verantwortbares Lebensglück und ein Leben in Würde.

Bernhard Ungericht

Die Maßlosigkeit der Massentierhaltung

250.000 Schweine in einem Betrieb - ein Paradies für mutierende Viren

Viren: Wie kommen sie vom Schwein zum Menschen?Viren: Wie kommen sie vom Schwein zum Menschen?

Schweine haben sehr ähnliche Immun systeme wie Menschen. Ein Schwein kann sich sowohl bei einem Menschen als auch bei einer Ente mit Influenza anstecken. Diese verschiedenen Influenzaviren können nicht nur punktuell mutieren, sondern gleich ganze Stücke ihres genetischen Materials miteinander austauschen innerhalb des Schweins. Am Ende haben Sie also einen Hybriden mit menschlichen Virenstämmen sowie mit Stämmen von wilden Vögeln, die für den Menschen tödlich sind. Und diese Hybride können von den Schweinen auf den Menschen überspringen. So entstand die Spanische Grippe 1918.

Sie folgerten in Ihrem Buch: Die industrialisierteSie folgerten in Ihrem Buch: Die industrialisierte Massentierhaltung wird uns in die Katastrophe füh-Massentierhaltung wird uns in die Katastrophe führen. Warum? Bisher sprachen Sie von Wildvögeln undren. Warum? Bisher sprachen Sie von Wildvögeln und Hausschweinen.

Die industrielle Viehzucht verschärft die Lage. An Stelle einiger Hühner haben Sie nun Hunderttausende in Massenmästereien. Auch Schweine werden in krasser Konzentration gezüchtet. Ein Beispiel aus meiner Umgebung: Ich kenne einen Betrieb in der Wüste von West-Utah. Da leben 250.000 Schweine unter Bedingungen, die man sich fast nicht vorstellen kann. Immer wieder sterben Arbeiter, weil sie in diese riesigen Teiche mit Schweineexkrementen fallen. Eine albtraumhaftere Szenerie könnten Sie sich nicht ausdenken.

Arbeiter, die in Schweineexkrementen ertrinken?Arbeiter, die in Schweineexkrementen ertrinken?

Die Fleisch- und Geflügelproduktion ist in den USA eine Niedriglohnindustrie. Die Arbeitskräfte sind mehrheitlich mexikanische Immigranten. Das Tiefpreis hühnchen, das zu einem wichtigen Teil der weltweiten Ernährung geworden ist, entsteht in Fabriken mit Fließbändern und automatischen Fütterungsanlagen. Der Preis dafür ist hoch: für die Arbeiterinnen. Für die öffentliche Gesundheit. Für die Umwelt. Fast Food beruht auf dem Raubbau von Umweltressourcen, der Zerstörung von Familienfarmen und der traditionellen Ökologie der Nahrungsmittelproduktion.

Die Massentierhaltung ist eine Teilchenbeschleunigerin. Mehr Körper auf weniger Raum bedeuten mehr Chancen für die Entstehung von Mutationen oder Hybridviren und für ihre Verbreitung, egal bei welchem Virus.

www.republik.ch/2020/12/23/covid-19-ist-erst-der-anfang

Mike Davis

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Bernhard Ungericht

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