Lebenswege sind oft seltsam.
Lebenswege sind oft seltsam.
Brennstoff Nr. 66 | Erich Pello | 23.01.2024 | 5 Minuten

Ivan Illichs Mutter Ellen Rose Regenstreif, die Tochter Friedrich Regenstreifs, entstammte einer sephardischen Familie, die während der Reconquista 1492 aus Toledo vertrieben wurde. Der zum Protestantismus konvertierte Friedrich Regenstreif, geboren in der Bukowina, war Holzhändler in Bosnien und Herzegowina und lebte mit seiner Familie in Pötzleinsdorf. Ivans Vater, der Zivilingenieur Piero Ilic entstammte einer serbokroatischen Familie katholischen Glaubens, mit diplomatischen Kontakten zum Vatikan. Er lebte in Split und auf der Insel Brac. 1925 heirateten die beiden, Ellen trat zum Katholizismus über. Am 4. September 1926 kam Ivan in Wien zur Welt und wuchs im Adriatischen Küstenland auf. 1932 zog er mit seiner Mutter nach Wien. Später erzählte er, dass er - geprägt von der mediterranen Welt, einer gastfreundlichen, menschlichen Gemeinschaft ohne Projektionen in die Zukunft - nach der Übersiedlung nie wieder ein Zuhause gefunden, gleichsam in Zelten gelebt hätte. 1941, in Zeiten übelsten Rassismus und dem Todesjahr sowohl seines Vaters Piero als auch seines Großvaters Friedrich, wurde Ivan ob seiner sephardischen Abstammung aus der Schule geworfen. Ellen ­- enteignet, verarmt - floh mit ihren drei Söhnen nach Florenz. „Ob sie mich wegen meines jüdischen oder meines serbischen Blutes umbringen, war mir egal“, sagte er viel später zu Barbara Duden in Bremen, wo er am 2. Dezember 2002 verstarb. Hineingeboren war Illich in die untergehende Atmosphäre der Österreichisch-Ungarischen Monarchie mit ihren 17 anerkannten Sprachen. Anlässlich der Verleihung des Kultur- und Friedenspreises der Stadt Bremen, sagte er bei seiner Dankesrede: „Wie konnte ich den Zipfel Heimat in den langen, dunklen Bremer Wintern finden ... Dieser da, dem als Bub Wien schon wie ein nördliches Exil erschienen war, weil seine dalmatinischen Sinne am weißen Karst, an den Oliven und an der Adria der frühen Kindheit hingen.“

Auch meine Vorfahren ­- ich brauche nur drei Generationen zurückzugehen - entstammen den vielschichtigen Räumen Europas. Sie lebten und wirkten an den Ufern des Traunsees und der Adria, der Moldau, Donau, Gail und Save, kamen aus Schlesien und dem Kronland Galizien, zogen nach Paris und Amerika. Ein Urgroßonkel entdeckte mit der Österreichisch-Ungarischen Nordpolexpedition das Franz-Josef-Land, mein „Heimathafen“ ist das etwas gemütlichere Weinviertel. Illich verstand den Faschismus nicht als Betriebsunfall der Moderne, sondern als deren apokalyptische Beschleunigung, hinein in die Banalität des Bösen. Dies erklärt seine tiefgründige Hinterfragung aller Mechanismen unserer Konsumgesellschaft - mit der Entfremdung des Menschen von sich selbst als deren destruktive Basis.

In Florenz studierte er Chemie und Geschichte, danach Philosophie in Split, Theologie in Rom, wo er 1951 zum Priester geweiht wurde. Er übersiedelte nach New York, in einen Stadtteil, in dem er als Priester mit Puertoricanern zusammenlebte. Von 1956 bis 1960 war er Vize-Rektor der Katholischen Universität von Puerto Rico, wo er die vatikanische SüdamerikaPolitik zu hinterfragen begann. Er kritisierte die US-amerikanische Technokratie in Lateinamerika, die Zerstörung indigener Kulturen mittels institutionalisierter Bildung und die Inhumanität technisierter Medizin. 1961 gründete Illich das Centro Intercultural de Documentación, das Interkulturelle Dokumentationszentrum CIDOC in Cuernavaca, Mexiko. Erst vor wenigen Tagen stieß ich bei den wohltuenden Recherchen über Ivan Illich auf Marianne Gronemeyers ermunternden Text „Haben, als hätte man nicht - Das Abseits als wirtlicher Ort“. In diesem erfuhr ich, dass auch Erich Fromm, dessen Werk „Haben oder Sein“ mich ebenfalls gut unterstützte, in Cuernavaca, der „Stadt es ewigen Frühlings“ (wie sie Alexander von Humboldt nannte) lebte. Mit Blick auf den wunderschönen Vulkan Popocatépetl waren sie Nachbarn und Freunde. Für Illichs Buch „Schulen helfen nicht“ schreib Fromm das Vorwort: „ ... eine solche Einleitung sei eine Gelegenheit, einer gemeinsamen Haltung und Überzeugung Ausdruck zu geben, obwohl einige unserer Ansichten beträchtlich auseinandergehen.“ Was für ein Satz! Im Vorwort zum Buche eines Freundes zu offenbaren, dass einige Ansichten beträchtlich auseinandergehen, lässt mich lernen. Es geht doch wirklich nicht darum, mit Freunden, der Familie, Kollegen immer einer Meinung sein zu müssen. Wie oft sind wir einer Meinung mit uns selbst? Aspekte der unendlichen Wirklichkeit unterschiedlich wahrnehmen zu lernen ist eine Basis für Erkenntnis und wirkliche Freundschaft. Rechthaberei spaltet, offener Diskurs vertieft die Menschlichkeit. Wir können voneinander lernen.

Der Dogmatismus der Römischen Kurie veranlasste Ivan Illich ab 1969 auf die Ausübung priesterlicher Funktionen zu verzichten. 1976 löst er das CIDOC auf, im Wissen, dass man die unvergleichbare Aura dieses Ortes nicht auf Dauer beleben könne, da Institutionen - verknöchernd - in ihr Gegenteil mutieren. Er übernahm Gastprofessuren, in einer Villa in Bremens Ostertorviertel, die er mit Freunden bewohnte. Dort gab es die berühmten Gastmahle, - Hausmusik und Gespräche mit Barbara Duden, Johannes Beck, Marianne Gronemeyer...

Als sechzehnjähriger Bub las ich erstmals ein Buch von Ivan Illich, seine klare Sprache reflektierte all die diffusen, gesellschaftskritischen Gefühle seit meiner Kindheit und half mir, diese bewusster wahrzunehmen. Ivan Illichs „Entschulung der Gesellschaft“ ließ mich erkennen, dass ich weder zu dumm noch zu faul für die Schule sei, mein Widerspruchsgeist nicht ganz unberechtigt wäre. Für den Jahresbericht ermunterte mich unser Deutsch& Geschichtsprofessor - offener Diskurs war ihm wichtig - unter Bezugnahme auf Illichs Streitschrift einen Artikel zu schreiben. Ich kritisierte, dass wir im Schulsystem allzu oft - unter dem Vorwand der Wissensvermittlung - verdeckten und offenen Unterwerfungsritualen ausliefert seien. Betragensnoten wären der Beweis für den Missbrauch von Autorität, Schulnoten bewerteten eher braves Auswendiglernen als wirkliches Verständnis des Unterrichteten. Dieser Text fiel direktionskanzleilicher Zensur zum Opfer. Diese Willkür bestärkte meine Zweifel. Einige Monate später öffnete mir Ivan den Weg von der beschränkenden Verschulung hinaus in die Offenheit des lebenslangen Lernens - wir alle leben ja zum Glück in vielen Welten zugleich.

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