Kriterien für die Wachsamkeit
Kriterien für die Wachsamkeit
Brennstoff Nr. 52 | Ursula Baatz | 09.02.2024 | 4 Minuten

Im Fjord vor der alten dänischen Königsstadt Roskilde hatten Wikinger um 1150 ein ausgeklügeltes Wach- und Warn system eingerichtet, mit dem die Stadt im Falle eines Angriffs innerhalb einer Viertelstunde alarmiert werden konnte. Über ein System von Türmen wurden Feuerzeichen weitergegeben, zudem gab es Wachen, die einsatzbereit in Booten saßen. Die Männer konnten nur sitzend schlafen, wird berichtet, mit der Hand an den Riemen – ein strapaziöses, aber erfolgreiches Konzept.

Wachsam waren auch die Indianer in meinen Kinderbüchern: sie konnten die Geräusche, die aus dem Dick icht um das Lagerfeuer drangen, kenntnisreich unterscheiden, und sie verstanden sich auf das Wahrnehmen von Kleinigkeiten, die dem ungeübten Auge entgingen, aus denen sie Schlüsse ziehen konnten über die Art der möglichen Bedrohung oder aber über mögliche Beutetiere. Das konnten nicht nur Indianer in Kinderbüchern. Diese Art der Wachsamkeit ist ein Charakteristikum von Menschen, die in enger Beziehung mit der Natur und auf sie angewiesen leben, Jäger und Sammler etwa.

Wachsam sein zu können gehört zur evolutionären Basisausstattung.

Wer wachsam ist, versteht Zeichen zu deuten – Töne, Geräusche, Gerüche und Geschmäcker, Bewegungen und Veränderungen. Die offene, weite Wahrnehmung bemerkt nicht nur, was im Fokus des jeweiligen Interesses ist, sondern auch, was an der Peripherie geschieht. Entscheidend ist die Fähigkeit, diese Wahrnehmungen einzuordnen. Denn nicht jedes Geräusch signalisiert Gefahr, und nicht jede Spur ist bedeutsam. Wachsam zu sein beinhaltet also einerseits eine weit offene, vorurteilsfreie Wahrnehmung mit allen Sinnen – man könnte von »Achtsamkeit« sprechen –, andererseits aber auch die Fähigkeit der Unterscheidung. Nicht jede Bewegung, jedes Ereignis ist ein »Unterschied, der einen Unterschied macht« (Gregory Bateson). Und nicht jeder »Unterschied, der einen Unterschied macht« ist hilfreich oder willkommen. Die Fähigkeit der Unterscheidung inkludiert, dass man das Unangenehme, Ungute, vielleicht sogar Bösartige genau erkennen kann. Dazu braucht es Kriterien. Das gilt für das Leben der Jäger und Sammler genauso wie für das Leben in der Wildnis des Neoliberalismus.

Wer achtsam wahrnimmt, »was jetzt ist«, kann sich mit größerer Freiheit für diese oder jene Handlungsweise entscheiden. Als Kriterium gilt, ob diese Handlung heil sam oder nicht heilsam ist, da sind sich alle religiösen bzw. spirituellen Traditionen einig. Das gilt im Kleinen – genehmige ich mir noch ein Glas Wein oder einen Kaffee oder ein Eis? – und auch im Großen, wenn es etwa um politische Entscheidungen für oder gegen bestimmte Programme usw. geht.

Die Frage ist, ob etwas »heilsam« oder »unheilsam« ist – ein Kriterium der buddhistischen Tradition. Ist ein Gefühl, ein Gedanke oder eine Handlung von den »drei Giften« Gier, Hass und Verblendung motiviert oder führt sie zur Verminderung dieser »drei Gifte«? Mit anderen Worten, als Kriterium gilt, ob es sich um Egoismus handelt – individuellen Egoismus oder Gruppenegoismus.

Wachsam sein wird in allen spirituellen Traditionen empfohlen. In den christlichen Kirchen des Ostens, den orthodoxen Kirchen, gilt Achtsamkeit als wichtige Tugend, die gepf legt werden soll. Die »nüchterne Wachheit« (népsis ) gilt sogar als Kriterium der Heilig keit.

Eine der Herausforderungen in diesem Prozess der Wach samkeit ist, die »Unterscheidung der Geister« zu lernen.

Der Ausdruck kommt aus den Exerzitien des Ignatius von Loyola, des Begründers der Jesuiten. Aus eigener Erfahrung schlug er einige Kriterien für den Prozess der Entscheidung vor. Heilsam und zum Guten führend ist es, wenn die Handlung leicht und erleichternd ist, wenn sie zu mehr Freiheit, Zufriedenheit und Frieden führt, Beziehungen stärkt und Vertrauen fördert. Dies gilt nicht nur für individuelle Entscheidungen, sondern auch für kollektive – z. B. politische – Fragen und kann als Richtschnur in Konfliktsituationen hilfreich sein. Konf likte sind unvermeidlich und notwendige Chancen für Transformation und Entwicklung. Was den Einzelnen oder ganze Gruppen unzufrieden, mürrisch, resignativ, misstrauisch macht – Ausgrenzung z. B. – ermöglicht keine produktive Transformation, sondern prolongiert den Konflikt.

Die gute und die schlechte Nachricht: Die offene, unvoreingenommene Wahrnehmung des Hier und Jetzt in seiner Vielfalt und Diversität bedarf der Übung. Und auch die Kunst der Unterscheidung will hier und jetzt geübt sein.

»Die beste Weise, sich um die Zukunft zu küm mern, besteht darin, sich sorgsam der Gegenwart zuzuwenden« schreibt der vietnamesische Zen-Meister Thich Nhat Hanh. Das gilt für das persönliche wie für das politische Leben.

Ursula Baatz: Philosophin, Ö1-Wissenschaftsund Religionsjournalistin, Lehrbeauftragte an der Universität Wien, Qi Gong-Lehrerin, ZenPraktikerin, Reisende und Buchautorin, zuletzt: Spiritualität, Religion, Weltanschauung. Landkarten für systemisches Arbeiten im Verlag Vandenhoek & Ruprecht, 2017. Mit-He raus geberin von polylog: zeitschrift für interkulturellesphilosophieren.

Author Placeholder

ein Artikel von

Ursula Baatz

Teile deine Meinung auf