Sie sind streng zu sich – was verlangen Sie bei Ihren Ausstellungen vom Publikum?
Marina Abramovic Wer kommt, muss als Erstes sein Telefon abgeben, seinen Computer, seine Uhr, alles. Dann setzen die Leute sich Kopfhörer auf, die alle Geräusche ausblenden. Das ist der Moment des Übergangs: vom Zuschauer zum Teilnehmer.
Computer weg, Smartphone weg – für viele Leute ist das bestimmt wie kalter Entzug.
Marina Abramovic Ich habe junge Japaner erlebt, die haben ihre Kopfhörer aufgesetzt, gelauscht – und gesagt: Die funktionieren nicht, man hört gar nichts! Daraufhin habe ich ihnen erklärt, genau, das soll so sein, es geht um Stille. Die sind durchgedreht ! Haben ihre Freunde angeschleppt, die ihre Freunde geholt haben ... Diese Kids hatten noch nie echte Stille erlebt. Irgend wo war immer Musik oder irgendwas. Mein Publikum ist ja sehr jung, meist Mitte 20. Dann machen sie ganz einfache Sachen – stehen, sitzen, liegen. Anschließend geht es daran, Linsen und Reiskörner zu zählen. Total interessant: Weil, so wie du Reiskörner und Linsen zählst und sortierst, gehst du mit deinem Leben um. Jeder macht das anders. Das dauert Stunden.
Wie bitte – wie man Reiskörner zählt, so lebt man?
Marina Abramovic Man fängt amüsiert an. Dann ist man total frustriert, weil man nicht fertig wird. Danach wird man wütend. Man verliert die Konzen tration, der Kopf spielt verrückt. Aber wenn man all diese Stadien durchlaufen hat, fängt man irgendwann an, regelmäßig zu atmen, der Geist stabilisiert sich, man bekommt Ergebnisse. Wenn du es schaffst, Linsen und Reiskörner zu zählen, wirst du auch das Leben meistern. Denn das ist es, worum es geht: Disziplin, Selbstkontrolle, Konzentration.
Quelle: Tagesspiegel