Kain & Abel
Kain & Abel
Brennstoff Nr. 50 | Ursula Baatz | 12.02.2024 | 4 Minuten

Da ist es wieder, das erste Opfer, und das gleich zweimal, in Marmor und als Ölgemälde. »Gut.Wahr.Schön« heißt die Ausstellung, in der mir der ermordete Abel gleich zweimal begegnet. Als fragile Gestalt haben ihn Pariser Künstler des 19. Jahrhunderts dargestellt, fast exotisch wirkend, wie ein »Windhauch« – das ist die wörtliche Bedeutung des Namens.

»Abel, wo ist dein Bruder Kain?« möchte man den Erschlagenen fragen. Denn es wird nur das Opfer gezeigt, nicht der Täter. Zufall? Wohl kaum, denn die Maler der Pariser Kunstsalons des 19. Jahrhunderts waren sich der ethischen Konzepte, die sie in ihren Bildern zeigten, sehr bewusst, genauso wie ihre Kritiker, die an den beiden Darstellungen etwa den femininen Körperbau monierten. Doch warum ist Kain nicht mit im Bilde?

Der Konflikt zwischen Kain und Abel ist ein klassischer Geschwister-Konflikt, der sich im biblischen Buch Genesis, hebräisch »bereschit« (»im Anfang«) findet. Die Geschichte ist bekannt: Kain, der Ackerbauer und sein Bruder Abel, ein Nomade und Viehhirte, sind die Söhne von Eva und Adam, geboren nach der Vertreibung aus dem Paradies. Kain bringt Gott ein Brandopfer aus Früchten seines Ackers dar, Abel nimmt etwas von den Erstgeburten seiner Herde und von ihren Fettstücken. »Adonaj beachtete Abel und seine Opfergabe, aber Kain und seine Opfergabe beachtete er nicht. Das ließ Kain auf’s Äußerste entflammen, seine Gesichtszüge entglitten.« Gott fragt Kain nach dem Grund und sagt: »Ist es nicht so, wenn dir Gutes gelingt, schaust du stolz; wenn dir aber nichts Gutes gelingt, lauert die Sünde an der Tür. Auf dich richtet sich ihr Verlangen, doch du – du musst sie beherrschen. Da wollte Kain seinem Bruder Abel etwas sagen – doch als sie auf dem Feld waren, erhob sich Kain gegen seinen Bruder Abel und tötete ihn.« (Gen 4, 2–7, Übersetzung: Bibel in gerechter Sprache).

Im Namen Kain steckt vielleicht die hebräische Wurzel qnh, »erschaffen«. Kain ist der Erstgeborene von Eva (wörtlich: »Leben«), und sie sagt stolz: »Ich hab’s gekonnt, einen Mann erschaffen – mit Adonaj.« Gott hat Menschen die Fähigkeit zu schöpferischem Tun gegeben, signalisiert die Bibel. Doch muss dazu ethische Selbstgestaltung kommen, vor allem im Blick auf Aggression.

Nach dem Mord an Abel wird Kain von Gott mit einem Zeichen markiert, das ihn vor Rachemord schützt – eine Unterbrechung der Aggressionsketten. Er lebt von nun an »gegenüber« (hebräisch qdmh), heimatlos »vis a vis vom Garten Eden«, heiratet eine Frau aus einem anderen Volk und gründet eine Stadt.

Das Buch Genesis erzählt »Geschichten vom Anfang« über grundlegende menschliche Befindlichkeiten. Dass zwei Brüder streiten und einer den anderen erschlägt, ist nicht überraschend. Im Unterschied zu anderen ähnlichen Erzählungen aus dem Alten Orient aber akzentuiert das Buch Genesis den Handlungsspielraum, den Kain hätte, aber nicht nützt – warum, erfahren die Leser nicht.

Es trifft Kains Stolz, dass Gott ihn nicht beachtet, und deswegen erliegt er der Dämonie der Gewalt (»Sünde«). Gewalt ist präsent in den Menschengeschichten: die hebräische Bibel ist in diesem Punkt sehr realistisch. Sie lässt aber auch keinen Zweifel daran, dass Gott auf Seiten der Schwachen ist, hier auf Seiten Abels.

Die Geschichte lässt sich aber auch anders lesen – als die Geschichte vom Konflikt zwischen nomadischen Lebensformen (Abel, Viehzüchter) und seßhaften, städtischen Lebensformen (Kain, Ackerbauer und Stadtbewohner). Liest man die Geschichte von Kain und Abel als Konflikt zwischen zwei Lebensformen, dann erscheinen die Darstellungen der Künstler des 19. Jahrhunderts schlüssig zu sein. Kain fehlt, denn die Europäer haben seine Rolle übernommen. Das begann bereits mit der Ausbeutung und Ausrottung der Indigenen in Lateinamerika auf den Latifundien und Silberminen der Kolonialherren. Der Rassismus des 19. Jahrhunderts sah die Weißen dann als die Besseren, als die zur Herrschaft Bestimmten. Europäische Imperialisten hatten weite Teile Asiens und Afrikas zu Kolonien gemacht, Asiaten und Afrikaner galten als verweichlicht, unmännlich und kindisch. Es sei des »Weißen Mannes Bürde«, die farbigen Völker zu beherrschen und zu erziehen, dichtete etwa Rudyard Kipling, Autor des »Dschungelbuchs«.

Was der Kolonialismus nicht vermochte, erledigt die Industriealisierung. Mikrokredite – so hilfreich sie sein können – treiben die Monetarisierung und Abhängigkeit von Banken voran, genetisch verändertes Saatgut, aber auch die Suche nach Bodenschätzen zerstören natürliche Lebensräume usw. Es gibt gerade noch eine handvoll Menschen irgendwo im Amazonasgebiet, die unberührt von technischer Zivilisation ein Leben der Jäger und Sammler leben. Wenn sie tot sind, ist der Strang, der uns mit der Vergangenheit verbindet, durchtrennt und Abel wirklich getötet.

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ein Artikel von

Ursula Baatz

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