Ich weiß, dass ich nichts weiß
Ich weiß, dass ich nichts weiß
Brennstoff Nr. 65 | Erich Pello | 17.01.2024 | 4 Minuten

„Ich weiß, dass ich nichts weiß“, soll Sokrates (469 - 399 v. Chr.) gesagt haben. Jedenfalls wissen wir, dass wir nichts Exaktes über Sokrates wissen können. Kein Text, den er selbst verfasst hat, ist überliefert. Was wir über ihn erfahren, entstammt den Schriften seiner Zeitgenossen und Schüler, vor allem Platon und Xenophon, später auch Cicero, beziehen sich gerne auf Sokrates. Bis heute belebt er offenes Denken und wache Kritik an totalitären Strukturen, Karl Popper sieht ihn als Wegbereiter der Idee des freien Menschen. Sokrates´ Mutter war Hebamme, sein Vater Bildhauer, wahrscheinlich half er als junger Mann in dessen Werkstatt mit. Später dann spazierte er gerne über den Athener Marktplatz und plauderte mit seinen Zeitgenossen. Humorvoll erzählte er bildreiche Geschichten und öffnete den Interessierten Zugänge zur weiten, vernetzten Welt, weit über Trugschlüsse und engstirnige Dogmen hinaus. Gerne stellte er infrage, was als allgemein gültig und alternativlos betrachtet oder gefordert wurde. Denn offen wahrnehmendes Forschen und Einsicht in Zusammenhänge ermöglichten gerechtes Handeln und Seelenfrieden – Unrecht zu tun sei schlimmer, als Unrecht zu erleiden, Gerechtigkeit die Basis harmonischen Seelenlebens. „Sokrates, der Lehrer, tritt regelmäßig als Schüler auf. Nicht er will andere belehren, sondern von ihnen belehrt werden. Er ist der Unwissende, seine Philosophie tritt in der Gestalt des Nichtwissens auf. Somit bringt er seine Gesprächspartner in die Position des Wissenden. Das schmeichelt den meisten und provoziert sie, ihr vermeintliches Wissen auszubreiten. Erst im konsequenten Nachfragen stellt sich heraus, dass sie selbst die Unwissenden sind.“

Der Kluge lernt von allem und von jedem. Der Normale lernt aus seinen eigenen Erfahrungen und der Dumme weiß alles besser.

Das gibt mir zu denken. Wie reagiere ich auf Fragen, die - mich zunehmend verunsichernd - mit meinen Fehleinschätzungen, Irrtümern, Dünkel konfrontieren? Sokrates soll viel gelächelt haben – spöttisch oder freundschaftlich ermunternd? Triumphiert er über meine Unwissenheit oder hilft er mir im ergebnisoffenen Erkenntnisprozess? Diese Zeilen schreibe ich, weil mir sein Lächeln in Zuneigung entgegenkommt, ich wohlwollende Unterstützung empfinde - wissend, dass ich nicht wissen kann, wie ich als Zeitgenosse seine Fragen empfunden hätte.

Ich kann niemandem etwas beibringen. Ich kann sie nur zum Denken bringen.

Denn nicht alle konnten, wollten seine Fragen als Hilfestellung annehmen, mächtige Athener - Bürger, Oligarchen - deren Denkfehler und Brutalitäten er demaskierte - fühlten sich verspottet, missachtet, unterstellten ihm, in Gottlosigkeit die Jugend zu verderben, forderten seinen Tod. - Wen wundert’s? Beleidigt zu sein über kritische Fragestellungen löst auch heute untergriffige Verleumdungen aus - bis hin zur Vernichtung der Glaubwürdigkeit, ja der Existenz des Kritikers. Der zunehmend einverlangte „Glaube an die Wissenschaft“ ist ein destruktiver Widerspruch in sich. „Die glaubwürdige Wissenschaft“ gibt es nicht, wissenschaftliches Denken lebt vom Zweifel. Sonst verkommt sie zu instrumentalisierbarem, destruktivem Dogmatismus. „Der Wissende weiß, dass er glauben muss“, schreibt Friedrich Dürrenmatt. Im Glauben liegt nichts Schlechtes, wenn wir wissen, das wir glauben und staunen, dies aber niemandem aufdrängen dürfen. - Selbst während der Gerichtsverhandlung stellte Sokrates alle Anklagepunkte in Frage, sagte lauton: „... ich schätze euch, Männer Athens, und liebe euch, gehorchen aber werde ich mehr dem Gotte als euch, und solange ich atme und Kraft habe, werde ich nicht ablassen zu philosophieren und euch zu befeuern …“. Die vermeintliche Uneinsichtigkeit in das ihm unterstellte Fehlverhalten brachte die Geschworenen zunehmend gegen ihn auf. Das Todesurteil nimmt Sokrates als Fehlurteil an.

Nun aber ist es Zeit fortzugehen, für mich um zu sterben, für euch um zu leben: Wer aber von uns dem besseren Los entgegengeht, das ist allen verborgen, außer Gott.

Geschenkt hat uns Sokrates die Maieutik - die Hebammenkunst. Er verstand seine Dialoge als Geburtshilfe - Erkenntnisgewinn in einem ergebnisoffenen Forschungsprozess. Der Lernhelfer ist die Hebamme, der Lernende die Gebärende. Ja, von der real existierenden, unendlichen Wirklichkeit nehmen wir mit Hilfe unserer Sinne nur Bruchteile auf, unser Verstand versucht eine praktikable Ordnung in die Fülle der Wahrnehmungen zu bringen. Wahrnehmungen lassen sich nur zu einem geringen Teil in Worte und Zahlen fassen - diese können Denkfehler ausdrücken oder der Wirklichkeit nahe kommen, wechseln an Bedeutung, werden fehlinterpretiert oder gut verstanden. Der Weg ist offen.

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Erich Pello

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