Etty Hillesum, eine niederländische Jüdin, wurde nach Auschwitz deportiert und im Alter von 29 Jahren ermordet. Ihr Leben war ein Beispiel für radikale Liebe.
Das Leben ist etwas Herrliches und Grosses
«Wenn ich nachts auf meiner Pritsche lag, mitten zwischen leise schnarchenden, laut träumenden, still vor sich hin weinenden und sich wälzenden Frauen und Mädchen (...), dann war ich oft unendlich bewegt, ich lag wach und liess die Ereignisse, die viel zu vielen Eindrücke eines viel zu langen Tages im Geist an mir vorbeiziehen und dachte: Lass mich dann das denkende Herz dieser Baracke sein!»
600 Seiten Tagebücher, Briefe und eine Karte
– das blieb von einer jungen Frau und ihrem immensen Lebenshunger. Sie zeigen, wie sich die intensive Liebe zu einem Mann in eine allgemeine, geradezu ekstatische Menschenliebe wandelt, die am Ende sagt: «Man möchte ein Pflaster auf viele Wunden sein.»
Wie war es ihr möglich gewesen, ein heiteres Herz zu bewahren?
Durch Liebe. Etty war intellektuell und sehr frei erzogen worden. Traditionelles Judentum spielte keine grosse Rolle in der gutbürgerlichen Familie im religiös toleranten Königreich Niederlande. 1914 geboren, las sie immerzu – Rilke, Dostojewski, später Augustinus und die Bibel. Trotz ihrer vielen Begabungen war sie unsicher und teilweise depressiv. Im Februar 1941 beginnt sie eine Psychotherapie bei dem Therapeuten und Handleser Julius Spier, der bei C.G. Jung in Zürich gelernt hatte – ein Mann mit magischer, anziehender Persönlichkeit. Zwischen ihnen wächst eine Freundschaft, ein Lehrer-Schülerin-Verhältnis und schliesslich eine Liebesbeziehung.
Spier weckt ihre grosse Gabe zu Selbstversenkung und radikaler Ehrlichkeit. Und schliesslich entdeckt sie das Beten – und damit diesen «allertiefsten und allerreichsten» Teil in sich, den sie schliesslich «der Einfachheit halber» Gott nennt. Damit hat sie eine Quelle gefunden, die sie bei den kommenden Gräueln Herz und Mut bewahren hilft. Der Naziterror hatte da schon begonnen. Im Mai 1940 kapitulierte die Niederlande vor der deutschen Besatzung. Immer enger wurde das Netz aus Diskriminierung und Gewalt für Juden. Etty erkennt ihr «Massenschicksal» als unausweichlich. Doch ihr Inneres festigt sich. Die Liebe ist ihr seelischer Schutz.
«Das war wieder ein historischer Moment an diesem Morgen: Nicht dass ich von einem unglücklichen Gestapo-Burschen angeschrieen wurde, sondern dass ich darüber keineswegs entrüstet war und eher Mitleid mit ihm hatte, so dass ich ihn am liebsten gefragt hätte: War deine Jugend denn so unglücklich, oder hat dein Mädchen dich betrogen?»
Sie dokumentiert Leid, Verzweiflung und Hass gegen die deutschen Besatzer
Sie unterdrückt die negativen Gefühle nicht, sondern lernt, sie zu klären. Das, so ahnte sie, war eine Vorbereitung auf das Schicksal und den Tod, mit dem sie als Ende der Judenverfolgung rechnete. Ab Sommer 1942 verschlechtern sich die Lebensbedingungen für die niederländischen Juden dramatisch.
«Manchmal freilich ist es, als legte sich eine Ascheschicht über mein Herz. Und dann kommt es mir vor, als würde mein Gesicht vor meinen Augen welken und vergehen, hinter meinen grauen Zügen taumeln Jahrhunderte nacheinander in einen Abgrund, und dann verschwimmt alles vor meinen Augen, und mein Herz lässt alle Hoffnung fahren. Es sind nur Augenblicke, gleich darauf habe ich mich wieder in der Gewalt, mein Kopf wird wieder klar, und ich kann meinen Anteil an der Geschichte tragen, ohne darunter zu zerbrechen. Wenn man einmal begonnen hat, an Gottes Hand zu wandern, ja, dann wandert man weiter, das ganze Leben wird zu einer einzigen Wanderung.»
Im Juli 1942 beginnen die Deportationen
Sie meldet sich zunächst freiwillig für die Arbeit in der «Sozialen Versorgung der Aussiedler» im Durchgangslager Westerbork. Dort hilft sie Alten, Kranken, Müttern von kleinen Kindern. Auch hier sucht sie sich ruhige Momente und kleine Orte, um weiterzuschreiben: In Briefen auf Packpapier und sogar auf Rückseiten von Denunziationsformularen beschreibt sie das Leben im Lager.
«Das Elend ist wirklich gross, und dennoch laufe ich oft am Abend, wenn der Tag hinter mir in der Tiefe versunken ist, mit federnden Schritten am Stacheldraht entlang, und dann quillt es mir immer wieder aus dem Herzen herauf – ich kann nichts dafür, es ist nun einmal so, es ist von elementarer Gewalt: Das Leben ist etwas Herrliches und Grosses, wir müssen später eine ganz neue Welt aufbauen – und jedem weiteren Verbrechen, jeder weiteren Grausamkeit müssen wir ein weiteres Stückchen Liebe und Güte gegenüberstellen, das wir in uns selbst erobern müssen. Wir dürfen zwar leiden, aber wir dürfen nicht darunter zerbrechen.»
Am 6. Juni 1943 kommt Etty endgültig nach WesterborkÜberlebende des Lagers sprechen später von ihrer «leuchtenden Persönlichkeit» – bis zuletzt. Auch ihre Eltern und ein Bruder werden nach Westerbork gebracht und von dort – am 7. September 1943 – gemeinsam in das Vernichtungslager Auschwitz¬Birkenau deportiert, wo die Eltern sofort umgebracht werden, Etty im November.
Ein letzter Brief
Noch im Waggon wirft Etty eine Postkarte aus dem Zug. Bauern fanden sie und schickten sie ab: «… Ich sitze mitten in einem überfüllten Güterwagen auf meinem Rucksack. Vater, Mutter und Mischa sitzen einige Waggons entfernt. Die Abfahrt kam doch noch recht unerwartet. Ein plötzlicher Befehl für uns aus Den Haag. Singend haben wir dieses Lager verlassen, Vater und Mutter sind tapfer und ruhig. Mischa ebenfalls. Wir werden drei Tage auf der Reise sein … Auf Wiedersehen von uns vieren. Etty.»