Nach dem Kino bummle ich spätabends durch die Mariahilferstraße zur U-Bahn, unvermeidlich an gefühlt tausenden Auslagen mit Kleidern, Schuhen und wasweißich vorbei. Vielleicht sind es ja nur maximal hundert, ich hab sie noch nie gezählt. Alles ist billiger, der Sommer ein einziger Ausverkauf/Sale/Saldi. Daneben hängt schon die Herbstmode, und sicher gibt es bereits jetzt Anzeichen von Weihnachtsverkauf. Das Leben ein einziger Kaufrausch, eine durchgehende Feier des Kaufens. Zur Erholung geht man nicht ins Grüne, sondern in die Einkaufspassage. Dort ist ewiger Sommer. Den Winter erkennt man nur daran, dass die Leute beim Einkaufen wegen der Wintermäntel schwitzen oder sich von den warmen Umhüllungen befreien. Jahreszeiten gibt es nur in der Schaufensterdekoration. Auch das Gefühl von Freiheit und Freude, dass endlich der Frühling kommt, wird als Kaufimpuls funktionalisiert. »Hier bin ich Mensch, hier darf ich’s sein«, sagt Faust beim Osterspaziergang, als endlich Eis und Schnee geschmolzen sind und im Tal das »Hoffnungsglück grünt«. Die Beschreibung des Osterspaziergangs in Goethes »Faust« ist eine der wunderbarsten deutschsprachigen poetischen Beschreibungen des Frühlings. Eine findige Drogeriekette hat daraus »Hier bin ich Mensch, hier kauf ich ein« gemacht.
Eine der scharfsinnigsten Kurz-Analysen dieser Mentalität stammt von dem Philosophen und Kulturkritiker Walter Benjamin (1892–1940). Der Kapitalismus sei eine Religion, schreibt er in seinem berühmten Fragment über »Kapitalismus als Religion«, und zwar »eine reine Kultreligion, vielleicht die extremste, die es je gegeben hat«. Das Religiöse am Kapitalismus ist die Formatierung der Mentalität: Kapitalimus ist nicht nur Tausch, sondern Akkumulation von
Mehrwert. In der kapitalistischen Mentalität zählt nur der Mehrwert in seiner abstrakten Form als Quantität z. B. als bezifferbare Summe. »Was bringt mir das?« fragt man bald einmal. Dass Mam mon, der Reichtum, eine Gottheit sein kann, also eine wichtige Größe im Leben, war bereits in den altorientalischen Gesellschaften bekannt. Wie in früheren Zeiten Religion »normal« war, ist in den nordatlantischen Gesellschaften von heute stillschweigend der geldwerte Mehrwert vorausgesetzt. Dies ist der Maßstab, der »am Ende des Tages« entscheidet. Man redet über Men schenwürde, es zählt die Handelsbilanz. Man redet über Nachhaltigkeit, doch weder die Zerstörungen durch In dustrialisierung noch der Verbrauch und Vernichtung von Ressourcen (z. B. natürliche Ökosysteme) wird be rechnet. Ironie: in Ös-
terreich plakatiert eine Hagelversicherung (! ), dass das Land in wenigen Jahrzehnten vor allem aus Beton bestehen wird, weil man seit Jahren täglich eine Fläche von der Größe eines Fussballfeldes zubetoniert, womit Arbeitsplätze und Lebensqualität von Tausenden verloren geht. Kapitalismus ist der »ganz normale Wahnsinn« – wenn die Orientie rung an geldwertem Mehrwert das Denken und die Wahrnehmung so selbstverständlich beherrscht, dass man die Monstrosität der Folgen zwar sieht, aber ausblendet.
Kapitalismus ist ein Kult, der nur Feiertage kennt, so Walter Benjamin: immer, auch nachts noch kann und soll man kaufen. Es darf keine Unterbrechung des Kultes geben, sondern nur die Steigerung: immer mehr vom selben, mehr Kleider, mehr Gadgets, mehr dies oder das. Der Mechanismus des Kults beruht auf dem Vergessen der Gegenwart. Die Schönheit, die Qualität des Augenblicks kann nicht verkostet werden, weil es noch anderes, »Mehr« gäbe, das in Zukunft zu haben wäre.
Dieses »Mehr« muss jetzt erst einmal bezahlt werden. Dafür müssen die allermeisten ihre Lebenszeit als Arbeitszeit verkaufen.
Arbeit jedoch ist nach dem Prinzip des geldwerten Mehrwerts organisiert, Natur ( = Menschen und Ressourcen) werden als Mittel der Gewinnsteigerung betrachtet. In das Bruttonationalprodukt geht die Zerstörung menschlicher wie nicht-menschlicher Ressourcen nicht ein, worauf umsichtige Ökonomen immer wieder hingewiesen haben.
Die Metaphysik des geldwerten Gewinns zerstört das Lebendige. Nutznießer des kapitalistischen Kults sind nur wenige: zum Beispiel 8 (acht) Milliardäre, die soviel wie die Hälfte der Weltbevölkerung besitzen; oder die 8 Millionen ÖsterreicherInnen, obwohl zirka eine Million von Armut betroffen sind (Österreich ist das viertreichste Land in der EU und weltweit auf Platz 15). Doch wer dem Mammon dient, fürchtet zu teilen, selbst wenn er oder sie zu den Verlierern im Reich des Mammons gehört. Das ist das Paradox des Kapitalismus als Religion oder des »ungerechten Mammons« (Lk16). »Darin liegt das historisch Unerhörte des Kapitalismus, dass Religion nicht mehr die Reform des Seins, sondern dessen Zertrümmerung ist.« ( Walter Benjamin)