Wer das Land liebt, der leidet (mit). Egal ob in den mächtigsten und reichsten Teilen des Planeten oder den ärmsten Ländern Afrikas, Asiens und Südamerikas: die Provinzen verlieren kontinuierlich BewohnerInnen, Vielfalt und Attraktivität, soziale wie kulturelle Möglichkeiten, Arbeitsangebote und Lebensformen. Die Provinzen gehen ihres traditionellen Wissens verlustig, ihrer Frauen, ihrer Jugend, ihrer Bildungsschichten und Intellektualität. Die ländlichen Räume verlieren Unterscheidbarkeit, Identität und, besonders schmerzhaft, jegliche Autonomie. Und dessen noch nicht genug: Das was das Land einst reich, stark und unabhängig gemacht hat, die Natur in ihrer unübersehbaren Vielfalt an Flora und Fauna verarmt und verkümmert in beängstigender Geschwindigkeit und unterschiedslos – in ihren ursprünglicheren Formen, oder in der durch die Landbewirtschaftung seit Jahrhunderten kultivierten Prägung.
Natürlich sind Vertreibung durch Landraub, Klimawandel, Welthandel und Umweltschäden in Afrika um vieles brachialer als die Abwanderung aus den ruralen Räumen Spaniens, Italiens, oder des Lavanttals, des Wald- oder Mühlviertels. Auf unterschiedlichem Niveau sind die Folgen jedoch ähnlich.
MARKUS BALSER , Süddeutsche Zeitung, 9. Aug. 2019
Die Provinz ist die große Verliererin der globalen Transformation. Landflucht, ob in Richtung regionaler Megacitys oder nach Europa, Dürren oder Überschwemmungen und der Verlust der Artenvielfalt – alle haben miteinander zu tun, gehen entscheidend auch vom Land aus und sind einander gleichermaßen Ursache UND Wirkung.
Am Beispiel der Landwirtschaft: Seit meiner Geburt bin ich dem Land durch Arbeit, temporärem Lebensmittelpunkt und Empathie verbunden und beobachte wie die globalen ökonomischen Zwänge und Abhängigkeiten, sowie ein allgemeiner Kulturverlust, die Beziehungs- und Lieblosigkeit der Landbewohner gegenüber dem Boden und seiner Bewirtschaftung sich in Wechselwirkung nach unten lizitieren, die Landwirtschaft und das Leben am Land schwächen.
BERNHARD PÖTTER , TAZ am 9. August 2019
Landwirtschaft, wie wir sie hier hauptsächlich betreiben, ruiniert den Boden und das Klima, sie gefährdet unsere Lebensgrundlagen und das Überleben anderer Arten und Ökosysteme. Auf der anderen Seite kann eine naturnahe Landwirtschaft aber sehr wohl die Menschheit ernähren, den Boden verbessern, die Artenvielfalt und das Klima sichern.
Die Rückkehr zu einer naturnahen Landwirtschaft verlangt einen großen Arbeitseinsatz. Europa hat mehr als 30 Millionen Arbeitslose – wir brauchen alle. Dank und Respekt gebührt allen Bio-Pionieren.
Diese Entwicklung lässt sich anhand ökonomischer und soziologischer Daten darstellen, mit ökologischen Kennzahlen beschreiben aber auch als Bild und mit unserem ästhetischen Empfinden erkennen und wahrnehmen. Wer die Wandlungsprozesse der Landwirtschaft, ihrer verkümmernden Baukultur und die schwindende Vielfalt an Bewirtschaftungsflächen und Erträgen beobachtet, der versteht. Und erst recht, wer auch Lebensform, Lebens- und Arbeitsqualität als Maßstab nimmt.
Lange war das Land auch anhand von Lebenstempo und Rhythmus zu unterscheiden. Als ich vor vierzig Jahren in den Bregenzerwald zog war der Wechsel ländlicher Lebens- und Wirtschaftsformen längst in Gang. Trotzdem waren deren traditionelle Muster noch zu erkennen:
Anton, der zwischenzeitlich verstorbene Altbauer des einzigen bis heute bewirtschafteten Hofs in unserer Nachbarschaft, war gut und gerne zwölf Stunden täglich an der Arbeit. Bei dieser war er die personifizierte Stetigkeit. Trotzdem hatte er immer Zeit. Wenn er mit seinem schweren, wohl gesetzten Schritt am Weg zu seinen Weiden an unserem Garten vorbeiging, war ein Gespräch obligatorisch. Nie ließ er das Gefühl aufkommen, er hätte anderes, Wichtigeres zu tun. Ohne jemals von einer diesbezüglichen Disziplin gehört zu haben, war er »im Hier und Jetzt«. Er war der Souverän seiner Zeit, Meister der Spontaneität und des »steten Flusses«. Unvergesslich ist seine Verschmitztheit. Er hatte einen ausgeprägten Sinn für Humor und immer einen selbstironischen Witz auf Lager. Mit seiner Erinnerung konnte er jedes Problem relativieren und in ein richtiges Verhältnis rücken.
Zwei Generationen später: Der heutige Hofbetreiber geht nicht mehr an unserem Garten vorbei, er tangiert ihn mit seinem Traktor oder Pick-up – mit weit überhöhter Geschwindigkeit. Falls man ihn doch gehen sieht, dann im Laufschritt. Dementsprechend zählen für ihn weder die Sonntags- noch die Nachtruhe. Von Scheinwerfern unterstützt erfolgt das Ausbringen der Gülle oder das Einbringen der Holzernte auch noch um elf Uhr nachts oder an Feiertagen. Lachen sieht man ihn nie.
Niemand öffnet sich den Vernunftgründen, der nicht zuvor von Fülle, Schönheit und Vielfalt beglückt wurde und deren Verlust schmerzlich empfand. Vielklang und Vielfalt der Erlebnisse gehören zum Dorf, genauso wie die Kinderbetreuung, die Altenpflege, eine funktionierende Straßenreinigung und eine ökonomisch gesicherte Landwirtschaft. Denn es gilt:
Dauerhaft ist das Nützliche nicht ohne das Schöne zu haben! Mit weltentrückter Romantik hat dies ganz und gar nichts zu tun, sondern mit einer das Leben sichernden Nachhaltigkeit, somit mit Vernunft und Realismus und einem Wertekompass, der uns verlässlicher leitet als ungelesene oder manipulierte Statistiken und der entfesselte globale Aktionismus und dessen Orientierungslosigkeit.
Was auf Ortsgestaltung und Architektur zutrifft, gilt auch für die Land- und Forstwirtschaft. Auch diesbezüglich täuscht uns das ästhetische Empfinden nicht. Der Vielstimmigkeit und Schönheit der Dörfer entspricht in der agrarischen Welt die Biodiversität. Auf der Ebene unserer Wahrnehmung ist es die Stimulanz von Viehweiden und Getreideäckern, von Gemüseäckern, Gewächshäusern und Blumenbeeten, von Hainen und Gärten, von Streuobst-, Streue- und Blumenwiesen, von Spaliergehölzen, Beerenstauden und Rankgewächsen, von Windschutzhecken, Obstbaumgruppen und Birnbaumalleen, von Bienen- und Schmetterlingsweiden, von Gräben und Furten, von Wasserläufen, Froschtümpeln, Fischteichen und Dorfweihern, von Hügeln und Ebenen, von Sonnenauf- und Sonnenuntergängen.
Das Land ist im Sog, im Bild und Bann der Städte heillos verloren gegangen, hat Eigenes und Bewährtes aufgegeben und Neues nicht entwickelt. Landwirtschaft, Tierzucht und Gartenbau lassen sich nicht restlos industrialisieren; Muße und freie Zeit nicht gänzlich und ungestraft kommerzialisieren. Die Landwirtschaft ist die Säule und der Angelpunkt eines Lebens am Land. Erst wenn sie ihre Bedeutung zurückgewinnt und aus ihrer zerstörerischen, auch selbstvernichtenden Fehlorientierung herausfindet, wird das größte Potenzial des Landes, eine seiner wesentlichsten Bedeutungen und Kraftquellen erneut freigelegt.
Ohne Empathie und Schönheit kein Nutzen und keine Zukunft! Das Land, vielmehr noch die Natur, ist die unentrinnbare Grundlage unseres Lebens, der existenzielle Ort unserer Nahrungsproduktion, die Quelle unserer materiellen Existenz und Erzeugnisse. Und es ist gleichermaßen ein Ort des Ausgleichs, einer besonderen Kraftquelle, eine Stätte der Orientierung, der Inspiration und der Poesie.
Ja, es gibt nichts zu beschönigen und zu verklären. Die Sozialgeschichte des Landlebens ist uns beklemmend bekannt, ihre vielen Schattenseiten, die bitteren, von schwerstem Unrecht, Leid und grauenhafter Entbehrung belasteten Biografien.
Die jüngste Geschichte des Landes hingegen ist die Geschichte einer Selbstaufgabe, einer Verdrängung und Vernachlässigung. Deutlicher noch: die Geschichte eines schändlichen Liebesentzugs.
Wenn ich von meinem Haus am Land, vor dem meine Frau einen wundervollen Garten hegt, in einer schlaflosen Nacht hinein in die Stille des Weltraums höre, dann beschwichtigt das die Aufregung der Welt und meines Alltags, dann weiten sich die Dimensionen.
Die Natur setzt laut Albert Camus »dem Irrsinn (dem irrenden Sinn?) der Menschen ihre ruhigen Himmel und ihren Sinn entgegen«. Er hat notiert: »Wir erleben die Zeit der Großstädte. Freiwillig amputiert man der Welt, was ihre Dauer bewirkt: die Natur, die Hügel, die Beschaulichkeit der Abende.«
Als Bub saß ich vollkommen gebannt und selbstvergessen vor der Schmetterlingssammlung meines um drei Jahre älteren Cousins. Von feinen Nadeln aufgespießt waren sechzig bis achtzig verschiedene Schmetterlingsarten in flachen, schubladenähnlichen Holzvitrinen präsentiert. Ob die drei, vier Exemplare, denen man in günstigen Momenten noch begegnen kann, auch dabei waren, weiß ich nicht. Die teils handtellerbreiten Flügelspannweiten und eine verzaubernde Farben- und Formenpracht führten mein Verständnis und meine Verbundenheit um vieles tiefer, als ich damals ahnte. Der russisch-amerikanische Schriftsteller Vladimir Nabokov beschreibt eine Form der Landbeziehung in seinen Lebenserinnerungen so: »Und am meisten genieße ich die Zeitlosigkeit, wenn ich – in einer aufs Geratewohl herausgegriffenen Landschaft – unter seltenen Schmetterlingen und ihren Futterpflanzen stehe. Das ist Ekstase, und hinter der Ekstase ist etwas anderes, schwer Erklärbares. Es ist wie ein kurzes Vakuum, in das alles strömt, was ich liebe. Ein Gefühl der Einheit mit Sonne und Stein.