Ein einziger mutiger Mensch stellt eine Mehrheit dar
Ein einziger mutiger Mensch stellt eine Mehrheit dar
Brennstoff Nr. 48 | Harald Welzer, Ilija Trojanowm Johann Wolfgang von Goethe | 13.02.2024 | 3 Minuten

Jede Menge Handlungsspielräume

Harald Welzer Worauf man beharren muss, gerade weil es einem ausgeredet wird, ist, dass es in Gesellschaften wie unserer jede Menge Handlungsspielräume gibt. Es gibt aber eine Rhetorik, die einem pausenlos mitteilt, dass man nichts machen kann. Und diese Rhetorik schließt ja inzwischen die politischen Eliten selber ein. Altbundeskanzler Schröder hat ja davon gesprochen, wie fürchterlich vermachtet die Verhältnisse sind – ausgerechnet der. Dieses ganze Behauptungsuniversum, dass alles unendlich kompliziert sei, alles völlig undurchschaubar, alles von Machtstrukturen durchwirkt, weshalb eigentlich niemand etwas machen könne, das ist natürlich reine Ideologie, und es stimmt nicht, denn immerhin besteht die zivilisatorische Leistung dieses Typs von Gesellschaft darin, Menschen Freiheitsräume zu geben, und die kann man nutzen – ich denke, das ist eine gute Definition des Politischen; es kommt darauf an, die gegebenen Handlungsspielräume zu nutzen, um sie zu bewahren. Das ist ja eigentlich die Übung, um die es geht.

Ilija Trojanow Wie erklären Sie sich, dass Politiker inzwischen auch dazu übergangen sind, diese Ideologie der Machtlosigkeit auf sich selber zu übertragen? Ich habe in letzter Zeit ein paarmal von Politikern die Ausrede gehört: »Uns sind die Hände gebunden, wir können nichts tun.«

Harald Welzer Ganz einfach, das suspendiert von der Verantwortung. Das sagt ja jeder, an jeder Stelle, in jedem Betrieb: »Ich kann nichts machen.« So lautet im Grunde genommen die Überschrift über dem gegenwärtigen Zustand, und es stimmt nicht. Erstens gibt es natürlich jede Menge interessierte Personenkreise, die jede Menge unternehmen, um die Welt nach ihren Vorstellungen einzurichten, und umgekehrt haben wir das Privileg in freien Gesellschaften, etwas machen zu önnen, aber diese Rhetorik der Entmachtung, der Ohnmacht, der Komplexität dient natürlich dazu, dass alle sich gegenseitig sagen können: »Ja, wir können eh nichts machen.« Das führt zu dieser Talkshowisierung, bei der man vor irgendwelchen Screens sitzt, irgendwelche Menschen reden hört, selber in der Rolle dessen ist, der das alles doof findet und darüber schimpft – aber alle stimmen überein, dass es beim Schimpfen bleibt.
Harald Welzer u.a. (Hrsg.): Die offene Gesellschaft und ihre Freunde. Welches Land wollen wir sein? Fischer Tb., Siehe auch: www.die-offene-gesellschaft.de

Nur alle Menschen machen die Menschheit aus, nur alle Kräfte zusammengenommen die Welt. Diese sind unter sich oft im Widerstreit, und indem sie sich zu zerstören suchen, hält sie die Natur zusammen und bringt sie wieder hervor. Von dem geringsten tierischen Handwerkstriebe bis zur höchsten Ausübung der geistigsten Kunst, vom Lallen und Jauchzen des Kindes bis zur trefflichsten Äußerung des Redners und Sängers, vom ersten Balgen der Knaben bis zu den ungeheuren Anstalten, wodurch Länder erhalten und erobert werden, vom leichtesten Wohlwollen und der flüchtigsten Liebe bis zur heftigsten Leidenschaft und zum ernstesten Bunde, von dem reinsten Gefühl der sinnlichen Gegenwart bis zu den leisesten Ahnungen und Hoffnungen der entferntesten geistigen Zukunft, alles das und weit mehr liegt im Menschen und muss ausgebildet werden; aber nicht in einem, sondern in vielen. Jede Anlage ist wichtig, und sie muß entwickelt werden. Wenn einer nur das Schöne, der andere nur das Nützliche befördert, so machen beide zusammen erst einen Menschen aus. Das Nützliche befördert sich selbst, denn die Menge bringt es hervor, und alle können’s nicht entbehren; das Schöne muß befördert werden, denn wenige stellen’s dar, und viele bedürfen’s.
Johann Wolfgang von Goethe, Wilhelm Meisters Lehrjahre

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