Editorial Brennstoff Nr. 47
Editorial Brennstoff Nr. 47
Brennstoff Nr. 47 | Heini Staudinger | 15.02.2024 | 3 Minuten

Liebe Freundinnnen, Liebe Freunde,

»Ich weiß nicht, warum ich so traurig bin.« So lautet der erste Satz im »Kaufmann von Venedig« von William Shakespeare. Ich hab den »Kaufmann« vor vielen, vielen Jahren im Burgtheater gesehen. Ignaz Kirchner spielte den Kaufmann. Ignaz war damals mein Nachbar. Immer, wenn wir uns trafen, spielte er mir ganze Textpassagen seiner Rolle vor. Das meiste habe ich vergessen, diesen ersten Satz jedoch habe ich mir gemerkt. Er redet diffus und doch ganz klar vom »ich weiß nicht«, vom Verfehlen des Lebens im Jagen nach Geld, Reichtum und Ansehen.

In unseren Breiten (Mitteleuropa, D, Ö usw.) gibt es viele Leute, die sich freuen, wenn sie etwas Geld auf die Seite legen können. Millionen aber haben nix. So ist es.

Millionen von Menschen haben hunderttausend, zweihunderttausend, dreihunderttausend Euro Cashvermögen »auf der Seite«, manche auch Millionen. Statistische Fakten belegen es. Wir sind reich. Die meisten haben mehr als genug. Und doch leiden Millionen Menschen in Europa an Einsamkeit, an Schlaflosigkeit, an Fettleibigkeit, an der Stimmung, nicht zu genügen im Kreis der anSCHEINend Schönen, Tüchtigen und Erfolgreichen.

Umso wichtiger ist es, so denken viele, »etwas« auf der Seite zu haben. Es könnt ja einmal »was« kommen. Irgendwie ist das schon verständlich. Und doch ist es bei den allermeisten so, dass vor diesem »Ernstfall«, wo’s gut ist, dass »was« da ist, der Tod kommt. Das ist doch traurig. Ernsthaft traurig.

Natürlich ist es traurig, wenn man nix hat. Es ist aber nicht minder traurig, bloß anders traurig, wenn man genug oder sogar zu viel hat und das Leben vorbeifließt, ohne im Fluss des Lebens dabei zu sein.

Wir alle, so meine ich, spüren diese Sehnsucht nach dem Fluss des Lebens. Ja, ja, ich weiß schon, diese Sehnsucht ist oft nicht ganz klar. Oft ist sie verschüttet. Manchmal, vor dem Einschlafen, da klopft sie an. In bruchstückhaften Bildern, in Erinnerungen an glückliche oder auch ernsthafte Augenblicke. Ich bilde mir ein, dass sich diese Sehnsucht nie ganz verschütten lässt. Man muss nicht allzu viel tun. Das Klopfen hören, das Fenster aufmachen, dem Ruf folgen, der Sehnsucht ein paar Schritte nachlaufen oder ihr entgegengehen. Vielleicht braucht’s ein bisschen Mut. Dieser »Mut« ist’s wert, dahinter schlummert möglicherweise das Glück. Und wenn’s nicht das Glück ist, das Leben wartet immer. Es fließt. Das Leben selbst will leben. Jede Fliege trachtet danach, mit dem Leben davonzukommen, wenn man sie fangen will. Sie muss nur rechtzeitig abhauen und losfliegen. Also los, Freunde. Wir wollen das Leben vor dem Tod nicht verpassen.

Das meint im Ernst
Heini Staudinger

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