Die unheimliche Nähe des Geldes
Die unheimliche Nähe des Geldes
Brennstoff Nr. 49 | Karl-Heinz Brodbec | 13.02.2024 | 7 Minuten

Der Versuch, die wiederkehrenden Krisen der Finanzwirtschaft durch einen äußeren Rahmen in den Griff zu bekommen, ist immer wieder gescheitert. Es gibt dafür einen tiefer liegenden Grund: Die Denkformen, in denen man Geldprozesse beherrschen und berechnen möchte, entstammen selbst dem Geldverkehr. Geld herrscht über Menschen, ist seinem Wesen nach aber unbeherrscht und maßlos.

Das Geld ist uns darin viel näher als wir ahnen. Das aufgeklärte Subjekt der Moderne verdankt sich dem Geldverkehr. Geld ist eine Denkform, kein Ding, keine feste Größe, die man statisch erfassen könnte. Die wirksame Geldmenge hängt ab von den Erwartungen der Marktteilnehmer, die ihre Geldbestände im Takt ihrer Ängste und Hoffnungen festhalten oder ausgeben. Der tägliche Kredit verändert unauf hörlich die wirksame Geldmenge. Zwar können Zentralbanken das Geldvolumen ausweiten; seine Verwendung – für reale Investitionen oder nur zur Spekulation an Aktien- und Rohstoffmärkten – lässt sich nicht steuern. Faktisch diente die immense globale Geldexpansion allerdings vor allem dem Spekulationsbedürfnis und führte zur Emanzipation des globalen Finanzsektors von der übrigen Wirtschaft, die sich in wiederkehrenden Krisen offenbart.

Die Fixierung der Aufmerksamkeit auf den global aufgehäuften Schuldenberg verhindert allerdings einen tieferen Blick darauf, wie das Geld tatsächlich die Lebenswelt der Menschen beherrscht. Die Krise der Währungen, der Banken mit ihren horrenden Schulden ist nur die Spitze eines Eisbergs, der Vorschein einer fundamentalen Krise des Geldes selbst.

Die Geldverwendung ist ein paradoxer Prozess. Einer seits verknüpft die Geldrechnung weit entfernte Märkte und Kulturen zu einer globalen Ökonomie. Andererseits führt diese Vergesellschaftung über das Geld zu einer radikalen Individualisierung des Lebens. Jeder ist sein eigener Unternehmer, umzäunt von Eigentumsgrenzen und mit anderen nur durch Kauf und Verkauf verbunden. Ökonomen wie Ludwig von Mises betrachten überhaupt alle menschlichen Handlungen als bloßen Tausch. Diese Ideologie der radikalen Zerteilung der Gesellschaft in Atome, die nur durch das Geld verknüpft sind, ist aber keineswegs nur ein dunkles Ideal des Neoliberalismus. Was hier Ökonomen als Modell konstruiert haben, drückt eine grundlegende Tendenz in der realen Wirtschaft aus. Geld löst alte Gemeinschaften auf, zerreißt die Bande mit der Natur und setzt moralisch-politische Schranken der Märkte außer Kraft. Individuen und Organisationen werden zur Kostenrechnung genötigt und auf eine Überschussrechnung programmiert. Dies gilt für den bürgerlichen Ehevertrag, Kirchen, Hochschulen oder Vereine ebenso wie für globale Konzerne oder Banken.

Doch die Spur des Geldes reicht noch tiefer – und nur ein Blick auf die gesamte Struktur der durch das Geld organisierten Gesellschaft kann das Ausmaß der ge gen wärtigen Krise erfassen. Die frühen Gesellschaften beruhten auf Formen der Sprache – demokratische Versammlungen, Theokratien, hierarchische Systeme von Befehl und Gehorsam usw. In diese Formen bettete sich in den vergangenen 2500 Jahren durch den wachsenden Geldverkehr eine ganz andere, neue Weise des Umgangs der Menschen untereinander ein. Wer über das Geld mit anderen verkehrt, der wird einerseits zum isolierten Eigentümer, andererseits zum rechnenden Subjekt. Dem Geldverkehr entstammt die moderne Mathematik und Naturwissenschaft.

Die Kauf leute, die mehr und mehr dazu übergingen, die Herstellung der von ihnen vertriebenen Waren selbst zu organisieren, unterwarfen die Herstellungsprozesse einer rigorosen Kostenrechnung. Dieses Kalkül, das Leistungen und Ertrag berechnend ins Verhältnis setzt, wurde schließlich zum mathematischen Naturverständnis. Zwischen Mensch und Natur trat die Technik, die ihrerseits als Produkt berechnenden Denkens eine völlig neue Form der Vernunft etablierte: die Ratio. Was philosophisch und politisch als Aufklärung erschien, war in ihrem innersten Kern eine Durchsetzung der Geldrechnung, der Rationalisierung der ganzen Gesellschaft.

Nicht nur die äußere Natur wird seither im engen kognitiven Fenster der Zahl wahrgenommen. Auch das Subjekt selbst wandelte sich zum Geldsubjekt. Das Geld vermittelt arbeitsteilige Bedürfnisse und Leistungen als ein Prozess. Es funktioniert nur, wenn es beständig ausgegeben wird. Jeder vermindert durch Käufe periodisch seinen Geldbesitz; ohne Geld kein Marktzutritt. Deshalb ist Geld eine Marktzutrittsschranke. Und um diese Hürde zu überspringen, wird das Streben nach Geld als Eintrittskarte für die Märkte zu einer universellen Handlung. Die Geldgier und ihre Institutionalisierung im Zins gründen darin. Die Geldgier ist nicht einfach psychologisch zu erklären, auch wenn sie zu einer »Geisteskrankheit« (Keynes) werden kann. Sie geht objektiv immer wieder aus dem Geldverkehr hervor und kann deshalb kaum durch einen äußeren Rahmen gebändigt werden.

Stets war die Geldgier kreativ genug, vom Zinsverbot bis zu Kapitalmarktkontrollen, politische und moralische Spielregeln durch immer neue Tricks zu umgehen. Das Geld ist zu einer Subjektform geworden und kann ohne eine grundlegende Reform des Denkens selbst in seiner Herrschaft kaum begrenzt werden. Das rationale, rechnende Ego versucht nicht nur die äußere Natur zu beherrschen, auch die innere Natur der Gefühle, Triebe, des Unbewussten wurde im Zuge der Modernisierung einer berechnenden Kontrolle unterworfen. Schon kleine Kinder werden so auf Marktfähigkeit trainiert – zu schweigen von Schulen und Hochschulen, die das Wissen in Bildungshäppchen, versehen mit Noten oder Punkten, verwandelt haben. Wer sich solcher Programmierung auf Markttauglichkeit verweigert, scheitert an der Zutrittsschranke des Arbeitsmarktes. Wer nicht die rechnende Abstraktion des Geldes an sich vollzieht, gilt als »unberechenbar« und »irrational«.

Nun hat spätestens die Psychoanalyse die Illusion eines rationalen Egos aufgedeckt, was als eine der Kränkungen der Moderne empfunden wurde. Menschen lassen sich nicht auf Rechenautomaten, auf – wie der Wirtschaftsnobelpreisträger Robert Lucas sagt – »Roboterimitationen« reduzieren. Die innere Rebellion dagegen zeigt sich im Burnout, im Stress, in vielen seelischen oder psychosomatischen Erkrankungen. Die innere Natur ist nicht rational, also zahlförmig. Trotz dieser Erkenntnis der Psychologie organisiert die Geldökonomie gleichwohl weiter immer tiefere Eingriffe in die menschliche Natur durch Genetik und Hirnforschung. Im Neuromarketing soll das rebellische Unbewusste sogar direkt mit Marktstrukturen verknüpft werden. Und dort, wo sich ein ganz anderes menschliches Wesen offenbart, in Kunst und Kreativität, erfolgt ein berechnender Zugriff: Kunst wurde einfach zur Ware. So sind Muße und freie Zeit längst zu einem lukrativen Freizeitmarkt geworden.

Der berechnende Zugriff, den die Geldverwendung täglich reproduziert, gilt jedoch nicht nur der inneren, sie gilt vor allem der äußeren Natur. Als Leonardo Pisano in seinem 1202 erschienen Liber Abaci die mo derne Mathematik aus der Erfahrung der kaufmännischen Rechnung begründete, wurde gleichzeitig der Grundstein gelegt fur den berechnenden Zugriff auf die Natur. Der Erfolg der modernen Naturwissenschaf ten steht gänzlich außer Frage. Ihre Erfolgsstory verläuft parallel zum exponentiellen Wirtschaftswachstum, das, durch die Geldgier befeuert, auf Innovationen beruht und mit jedem Gewinn neues Wachstum generiert. Naturwissenschaftliche Kreativität und Forschungsfinanzierung sind indes nicht nur äußerlich verknüpft. Tatsächlich besitzt nahezu alle moderne Forschung – nur einige Geisteswissenschaften leisten hier noch Widerstand – eine formal-mathematische Struktur. Die soziale Form der Geldrechnung begründet auch den Blick auf die Natur. Seit dem ausklingenden Mittelalter haben die Wissenschaften eine Brille der Zahlförmigkeit aufgesetzt. Was von der Natur in diesem engen kognitiven Fenster erfasst wird, ist wahr relativ zum damit verbundenen technischen Zugriff. Doch die Natur ist noch anders als das, was durch die mathematische Brille erscheint. Dieses Andere zeigt sich immer dann, wenn die Rechnungen versagen. Wir haben in der Technik Natur in die Mitte unserer Lebenswelt geholt, stets hoffend, dies auch rechnend beherrschen zu können. Was sich in Fukushima, in ökologischen Krisen, beim Klimawandel oder dem Artensterben zeigt, ist aber eine ganz andere und durchaus unberechenbare Seite der Natur.

Das Geld war zunächst nur ein Medium, die Arbeits- und Bedürfnisteilung zu vergesellschaften. Es hat sich in andere Vernunftsformen als berechnendes Denken eingenistet und beherrscht seit der Aufklärung schrittweise alle menschlichen und nichtmenschlichen Lebenswelten. Was sich in der Finanzkrise als Unmöglichkeit zeigt, die vielfältige Vernetzung individualisierter und durch Eigentumsgrenzen atomisierter Rechnungen ihrerseits zu berechnen – wie die Finanzmarkttheorie –, das ist nur ein Symptom einer viel tieferen Krise der Ratio. Sie offenbart sich in Naturkatastrophen ebenso wie in wachsenden Problemen der Menschen, die Zumutungen der Märkte zu ertragen. Die Größe des Problems verlangt langfristig eine große Lösung: Eine grundlegende Reform des Denkens, durch das menschliche Gemeinschaften ohne Berechnung und mit Respekt vor der inneren und äußeren Natur die irrlichternde Ratio bändigen. Solange Reformen nur vom Geldsubjekt initiiert sind, werden Krisen nur die Kleider wechseln und in Art und Umfang zunehmen.

Karl-Heinz Brodbec

KARL-HEINZ BRODBECK ist emeritierter Professor für Volkswirtschaftslehre, Kreativitätstechniken und Wirtschaftsethik. Zahlreiche Publikationen zu Geldtheorie, Wirtschaftsethik, Kreativitätsforschung, westlicher und buddhistischer Philosophie.

Author Placeholder

ein Artikel von

Karl-Heinz Brodbec

Teile deine Meinung auf