Die Rückeroberung der Zukunft
Die Rückeroberung der Zukunft
Brennstoff Nr. 51 | Milo Rau | 12.02.2024 | 11 Minuten

Aus der Eröffnungsrede des Theaterregisseurs Milo Rau beim Kongress dialektik der befreiung am 24.11.2017 im Theater Odeon Wien

Liebe Freundinnen und Freunde,

die letzten zwei Wochen bin ich mit meinem aktuellen Film Das Kongo Tri bunal – die Dokumentation eines zivilgesellschaftlichen Tribunals, das wir im ostkongolesischen Bürgerkriegsgebiet gegen die lokale Regierung, die UNO, die Weltbank und die grossen multinationalen Rohstoffkonzerne durchgeführt haben – durch Deutschland, die Schweiz und Belgien gereist.

Als wir den Film im Juli im Ostkongo in den Bürgerkriegsstädten und Minendörfern zeigten, überreichten die Zuschauer unseren Untersuchungsrichtern und mir, kaum war der Film vorbei, Beweisfotos und schriftliche Zeugenaussagen. Sie berichteten vom weiteren Verlauf der Wirtschaftsverbrechen und Massaker, die

wir in unserem Film dargestellt hatten – oder von ganz anderen Fällen, deren wir uns annehmen sollten. Denn seit 1996 sind im dortigen Bürgerkrieg, der in Wahrheit ein Krieg um das in der ostkongolesischen Erde liegende Coltan und Gold ist, mehr als 7 Millionen Menschen gestorben in über 1000 Fällen von Massenvertreibungen, Massenvergewaltigungen, oder einfach von – absichtlicher und planmässiger – Unterversorgung.

Wenn wir unseren Film in Hamburg, in Berlin, in Brüssel, in Zürich oder in Genf vorführen, geschieht Vergleichbares: Die Zuschauer kommen zu uns, erzählen von ähnlichen Fällen, fast jede schweizer, belgische, deutsche Firma ist in ein Verbrechen gleichen oder größeren Maßstabs verwickelt wie die zwei Firmen, die wir in dem Film porträtieren. Da fallen Namen wie Monsanto, Glencore, VW, KiK, und je länger man zuhört, desto stärker wird das Gefühl, dass wir alle in einem Alptraum leben, nur eben bei vollem Bewusstsein. Und das war auch das Schlussfazit, das Robert Misik zog, einer der Stenographen unseres Weltparlaments, der sogenannten General Assembly, die Anfang November 2017 in Berlin stattfand – ein Parlament alljener, die von europäischer Politik betroffen, in unseren Parlamenten aber kein Mitspracherecht haben – Robert Misik hörte sich also drei Tage lang, 20 Stunden lang die Aussagen von Textilarbeitern aus Bangladesh, von Automobilherstellern aus Brasilien, von kongolesischen Minenarbeitern an, und sagte:

Das Weltparlament ist kein Ort der Träumer, sondern der Alpträumer. So schrecklich, so absurd, so ungerecht ist die Welt, in der wir leben.

Der Titel dieser Rede lautet »Die Rückeroberung der Zukunft« – denn der Alptraum, von dem ich spreche, hat es an sich, dass er sich nicht nur in die Vergangenheit erstreckt, wie die üblichen Alpträume, von denen man in der Schule hört, sondern auch in die Zukunft. Lassen Sie mich das erklären.

Um im Ostkongo eine Mine zu öffnen – also von der Entdeckung der Mine bis zu jenem Tag, an dem der Abbau mit allen Maschinen, Belüftungsanlagen, Unterkünften, Versorgungsketten usw. losgehen kann – vergehen im Schnitt 12 Jahre. Der finanzielle Aufwand dafür beträgt mehrere Milliarden Dollar, Kosten, die sich wegen des Bürgerkriegs oft zu einem Mehrfachen multiplizieren. Diese Summen schränken die Mitbewerber auf wenige europäische und nordamerikanische Firmen ein – im ostkongolesischen Minensektor gibt es beispielsweise nur eine einzige Firma, die Gold abbaut: die kanadische Firma BANRO , die in meinem Film Das Kongo Tribunal im Zentrum steht.

Der Neoliberalismus, einst angetreten gegen staatliche Monopole, gefeiert als der große Befreier, verhasst als der große Deregulierer – denn aus der Zerschlagung der kongolesischen Minenindustrie durch die Weltbank in den 80ern ist BANRO , eine Investmentfirma, überhaupt erst ins Goldgeschäft gekommen – der Neoliberalismus also steht heute nicht mehr für den freien Wettbewerb, sondern meint ein fast absurd monopolistisches System, das an die mittelalterliche Kirche erinnert – ein Wirtschaftssystem, das nicht nur von den Milizen lokaler Regierungen, sondern auch von den Regulierungs- und schließlich Ethik-Gesetzen europäischer und amerikanischer Parlamente gestützt wird, die mit absurden Auf lagen die lokalen Produzenten in die Illegalität stoßen. Im Fall des 2010 vom amerikanischen Kongress verabschiedeten Dodd-Frank Act, eines Regulierungsgesetzes, das Kinderarbeit, die Arbeit von schwangeren Frauen etc. in kongolesischen Minen untersagte, verloren geschätzte 2 – 5 Millionen Arbeiterinnen und Arbeiter ihren Job in den Minen.

Realismus – realistische Politik, realistische Kunst – kann also nur sein: Jenen Stimmen zu lauschen, die bescheid wissen – und damit die eigene Sicht der Dinge in Bewegung zu bringen.

Was uns aus der Entfernung, eingeschlossen in unsere eigenen Logiken, richtig erscheint, ist oft komplett falsch. Die Gegenwart hat es an sich, den Zeitgenossen zwingend, ja hermetisch zu erscheinen, insbesondere in der heutigen Welt, in der alles, könnte man sagen, »vorbestimmt«, da auf Prof it getaktet ist.

Kommen wir noch einmal zur ostkongolesischen Minenindustrie: Der springende Punkt ist nicht die Gier oder die Amoralität der Rohstoffkonzerne selbst – die kleinen Schürfer sind genauso gierig, und das zeigen wir auch in unserem Film – sondern die komplexen Aktienfonds und Anlegerstrukturen, die hinter diesen Konzernen stecken. Denn können die investierten Milliarden – das hat mir ein Minenmanager von BANRO erzählt – nicht innerhalb von 3 Jahren wieder amortisiert werden, bricht zuerst die Firma, dann der Fonds, dann die jeweilige Rohstoffbörse zusammen – und Europa, die USA stecken in einer Finanzkrise.

Rette sich wer kann, für alle Beteiligten: Da bleibt keine Zeit, um vor Ort Infrastruktur, Bildung, überhaupt irgendetwas Längerfristiges aufzubauen, denn an der Stabilität des Marktes hängt ja unser eigener Reichtum, der Reichtum unserer Wohlfahrtsstaaten – und damit letztlich unsere Demokratie.

Gleichzeitig ist die Gegenwart, der ganze Glanz unserer Tage, der Alltag und letztlich der Sinn des Lebens von Milliarden von Menschen und Billiarden von anderen Lebewesen im Zeitalter des Finanzkapitalismus nur noch ein Übergangsraum, in dem die Zukunft sich zu realisieren hat. Denn die Zukunft ist verkauft, bevor sie stattgefunden hat – unsere, die Aufgabe der Zivilgesellschaft ist es, sie zurück zu erobern.

Wie ist es aber möglich, aus diesem sozialdarwinistischen Alptraum auszubrechen: aus diesem Alptraum, der mit dem Anspruch der Befreiung angetreten ist, heute aber derart irrational geworden ist, dass er zum Nutzen der wenigsten und zum Leid der absoluten Mehrheit funktioniert? Aus einem Alptraum, der für uns alle tödlich enden wird, jedenfalls mit einer ökologischen und gesellschaftlichen Katastrophe bisher unbekannten Ausmaßes – für uns alle deshalb, weil die Menschheit eine Schicksalsgemeinschaft ist und weder das Klima noch die Weltwirtschaft Grenzen kennen. Es ist, als würde ein Meteor auf die Erde zurasen: Aber anstelle sich um Lösungen zu kümmern, sprechen wir darüber, ob es diesen Meteor wirklich gibt – und falls ja: Wer dafür zuständig ist, wer wie über den Meteor reden darf und wie diejenigen, die darüber reden dürfen, gewählt werden sollen.

Wer auch nur im Ansatz Realist ist, fühlt sich spätestens seit der Wahl Donald Trumps in einer Art Gegenwirklichkeit gefangen. Seit seiner Wahl hat sich die Welt verwandelt, vielleicht hat sie aber auch nur ihr wahres Gesicht gezeigt. Das Unmögliche, die Lüge, der höhnische Wahnsinn, die tödliche Verdrängungsleistung der Macht ist Realität geworden, ja Alltag. Die Titanic sinkt, und es ist, als würden wir uns zum Abschiedsball noch einmal in die unbequemen Kostüme längst vergangener Zeiten quetschen, die nicht nur unbequem, lächerlich, gemein sind, sondern vor allem den Nachteil haben, dass sie die längst nötigen globalpolitischen Lösungen noch einmal und, so fürchte ich: end gültig verzögern werden.

Wie ist diese Erstarrung zu erklären? Vor einigen Wochen veröffentlichte die ZEIT eine Untersuchung, dass in den letzten 20 Jahren 75 Prozent der Biomasse der Insekten in Deutschland verschwunden ist – die deutsche Politik kümmert sich aber ausschließlich ums Aushandeln einer Koalition, die dann doch nicht zustande gekommen ist, oder vielleicht doch, nur mit anderen Partnern, wer weiß. Vorgestern ging – ich saß im Zug und fuhr, wie immer, von einem Spielort des Kongo Tribunals zum anderen – ein Bild um die Welt, auf dem sich der syrische Diktator Assad und der russische Diktator Putin umarmen und zum baldigen Sieg über den »Terrorismus« gratulieren. Wer hätte vor 5 Jahren auch nur vermutet, dass Assad an der Macht bleiben würde? Warum tanzen wir nicht im Kreis vor Verzweiflung, wenn die Insekten verschwinden:

»Wenn die Biene einmal von der Erde verschwindet, hat der Mensch nur noch vier Jahre zu leben. Keine Bienen mehr, keine Bestäubung mehr, keine Pflanzen mehr, keine Tiere mehr, kein Mensch mehr«, so wird gesagt. Es ist aber, als würden wir gelähmt vor all diesen apokalyptischen Bildern sitzen, in denen das Böse gut, die Lüge unterhaltend, das Katastrophale normal erscheint. Es ist wie in dem berühmten Ölbild von

Pieter Brueghel, das er 1556 malte, nicht lange nach den großen Bauernkriegen: Weit im Hintergrund stürzt Ikarus ins Meer, kaum sichtbar, während vorne ein Pflüger völlig unbeirrt seiner Arbeit nachgeht. Symbol einer Gegenwart, die, gerade weil mythische Katastrophen in ihr stattfinden, von einer fast absurden Stille, einem ewigen Frieden erfüllt scheint. Der einzige Weg aber, aus der Totalität der Jetztzeit auszubrechen, ist, sie aus einiger Entfernung zu betrachten. Gleichsam aus der Zukunft, mit dem utopischen Auge auf sich selbst zurück zu blicken – oder, anders herum, in der Vergangenheit nach vergleichbaren Momenten, nach genauso absurden, alptraumartigen Epochenbrüchen zu suchen. Denn am Beginn jeder Revolution steht eine, sagen wir, anti-narzisstische Spiegelung, eine Spiegelung nämlich des Eigenen im völlig fremd Gewordenen, im Vergangenen, im Gescheiterten.

Vor ein paar Tagen erreichte mich per Mail der Vorschlag eines deutschen Produzenten: Ich solle doch, schrieb er, ein Drehbuch über den Reformator und Sozialrevolutionär Thomas Müntzer verfilmen, ein Mitstreiter des sehr viel berühmteren Martin Luther zuerst, und später, als das Volk die Forderungen Luthers nach der Befreiung vom Joch der katholischen Kirche, von fürstlicher Bevormundung zur Realität machen wollte, sein Widersacher. Denn Thomas Müntzer und die Bauern, mit denen er paktierte, wollten auf Luthers Reformation der Kirche eine Revolution der sozialen Beziehungen folgen lassen, »Christen, Juden, Moslems und Heiden« zählte der universalistische Müntzer zu den Anwärtern auf Gottes Heil. Luther seinerseits – bald nach dem Thesenanschlag 1517 in alle möglichen finanziellen und kirchlichen Abhängigkeiten verstrickt – wollte nur einer kleinen Gruppe den Eingang in die Unendlichkeit zugestehen: den reformierten Christen natürlich. An den sozialen und politischen Zuständen im Diesseits wollte er aber, nachdem er die Befreiung des Individuums innerhalb der Kirche durchgeführt und für sich selbst das Zölibat zur Seite geschafft hatte, gar nichts mehr verändern.

Als kurz nach dem Thesenanschlag der Große Bauernkrieg ausbrauch, trug Luther deshalb den Fürsten in einer Flugschrift auf, die aufrührerischen Bauern »wie tollwütige Hunde zu erschlagen«. Über hunderttausend Menschen fanden bei den Strafaktionen, die auf den kurzen Frühling der Anarchie 1525 folgten, den Tod. Die Landsknechte zogen durch die Dörfer, hackten den Bauern Füße und Hände ab, blendeten und vergewaltigten – völlig wahllos, genüsslich, sadistisch, mit jenem entfesselten Anarchismus der Macht, die Pier Paolo Pasolini in seinen »120 Tagen von Sodom« so eingehend beschrieben hat. Müntzer selbst wurde tagelang gefoltert und schließlich enthauptet, sein Kopf und Körper wurden aufgespießt und ausgestellt – ein Massaker, das Brueghel auf einem anderen Bild und mit vergleichbarer Gleichgültigkeit wie im »Ikarus« dargestellt hat. Was mich aber, als ich zwischen den Spielorten des Kongo Tribunals begann, Luthers Schriften zu lesen, an seiner Theorie besonders interessierte, war Folgendes: ihr fast traumwandlerisches Gespür für die Grenzen der Welt, in der er lebte – für jene Grenze, an der die Reformation um 1500 zur Revolution und aus einem Reformator ein Volksfeind, ein Revolutionär, ein Vogelfreier wurde. Denn überraschenderweise war Luther nicht verbrannt worden, schnell hatten sich die Landesfürsten und frühkapitalistischen Städte um ihn geschart, denn mit der neuen Glaubensrichtung sahen sie ihre Chance auf Selbstbestimmung, die Befreiung der Städte vom Diktat von Kaiser und Kirche gekommen – und das wollten sie sich von Leuten wie Thomas Müntzer, die den frühkapitalistischen Fürsten und Städ ten den Krieg erklärten, nicht wieder nehmen lassen. Luther machte daraus sogar einen Glaubensspruch, der bis heute fortwirkt: Wirklich frei ist nur der innere Mensch, schrieb er, der äußere aber bleibt der Obrigkeit unterworfen. Und dies sollte die Geburtskrankheit der Mo der ne sein, der sich übrigens der erste Kongress 1967 zur »Dialektik der Befreiung« in ganzer Brei te angenommen hat: diese Schizophrenie des modernen Menschen, der, wie Hannah Arendt über Adolf Eichmann sagte, unfähig ist, sich selbst in seinem Handeln, in seiner Praxis zu erkennen. Ich habe das einmal den

Zynischen Humanismus genannt: Das Tun und das Denken spazieren beim modernen, nachmittelalterlichen Menschen wie zwei durch eine blickdichte Bretterwand getrennte Pferdchen nebeneinander her. Die Welt, so das Fazit des Zynischen Humanismus, dessen Urvater Luther ist, kann allemal von Teufeln verwaltet werden – die See le, oder etwas moderner: das Individuum bleibt unbeschadet davon. Man kann auf einem Billig-Handy, das mit dem Blut Tausender vertriebener oder gleich massakrierter kongolesischer Bergbauern erkauft ist, problemlos eine Petition gegen Blutmineralien unterschreiben. Wer sich aber tatsächlich auf lehnt gegen die Welt, der ist ein gefährlicher Wahnsinniger, ein »tollwütiger Hund«, wie Luther sagte, ein »Terrorist«, wie Assad und Putin sagen würden, im bes ten Fall aber ein Narr.

Ich habe mir auf meiner Tour durch die Premierenstädte des Kongo Tribunals die Kritiken der bürgerlichen Blätter durchgelesen. Da heißt es ironisch, wir seien »Weltenretter«, unser Unterfangen, einen Weltwirtschaftsgerichtshof zu schaffen, sei »eitel«, »gefährlich«, ja »utopisch«, »irrational« und »megaloman«. Das gleiche hieß es über unser Weltparlament: Größenwahnsinn, gekoppelt mit Eitelkeit und einer Prise stalinistischer Allmachtsphantasie. Aber welche Megalomanie, welche Utopie, welche Eitelkeit und Allmachtsphantasie kann diese unfassbare, allumfassende Utopie des Kapitals, die ganze Weltgegenden und den Planeten überhaupt auf Jahrzehnte, auf Jahrhunderte hinaus verkauft hat, parieren? Müssen wir Intellektuellen, wir Künstler nicht erst einmal auf die Höhe der Irrationalität, ja: der Tödlichkeit unserer Zeit kommen, um wirklich realistisch zu sein?

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ein Artikel von

Milo Rau

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