Der Weg des Menschen
Der Weg des Menschen
Brennstoff Nr. 47 | Heini Staudinger, Martin Buber | 15.02.2024 | 4 Minuten

Bei sich selbst beginnen, aber nicht bei sich enden.

Vor Jahren – ich erschrecke: es war schon vor Jahrzehnten, da hat mir eine sehr liebe Freundin das kleine Büchlein von Martin Buber, »Der Weg des Menschen« geschenkt. (Danke, danke, nicht nur für dieses unglaublich schöne Buch! ). Ich habe es in der Zwischenzeit mindestens fünfzig Mal weiterverschenkt, denn es beinhaltet genau das, was wir in unserer hirnrissigen Raserei und dieser unfassbaren Zerstörungswut unserer Lebensgrundlagen vergessen haben.

Raserei und Zerstörungswut funktionieren wahrscheinlich nur dann so richtig gut, wenn »man« den tieferen Sinn des Daseins vergessen und somit auch die Suche schon aufgegeben hat. Denn die Suche nach dem tieferen Sinn, das Unterwegssein dorthin, das ist ja der Weg des Menschen.

Die folgenden Texte entstammen dem kleinen Büch lein von Martin Buber, »Der Weg des Menschen«. Die Ausgabe vom Gütersloher Verlagshaus kostet rund 15 Euro. Sie gefällt mir sehr gut.
Heini Staudinger

Hier wo man steht

Es gibt etwas, was man an einem einzigen Ort in der Welt finden kann. Es ist ein großer Schatz, man kann ihn die Erfüllung des Daseins nennen. Und der Ort, an dem dieser Schatz zu finden ist, ist der Ort, wo man steht.

Die meisten von uns gelangen nur in seltenen Augenblicken zum vollständigen Bewusstsein der Tatsache, dass wir die Erfüllung des Daseins nicht zu kosten bekommen haben, dass unser Leben am wahren erfüllten Dasein nicht teilhat, dass es gleichsam am wahren Dasein vorbei gelebt wird. Dennoch fühlen wir den Mangel immerzu, in irgendeinem Maße bemühen wir uns, irgendwo das zu finden, was uns fehlt. Irgendwo in einem Bezirk der Welt oder des Geistes, nur nicht da, wo wir stehen, da, wo wir hingestellt worden sind – gerade da und nirgendwo anders aber ist der Schatz zu finden.

Die Umwelt, die ich als die natürliche empfinde, die Situation, die mir schicksalhaft zugeteilt ist, was mir Tag um Tag begegnet, was mich Tag um Tag anfordert, hier ist meine wesentliche Aufgabe und hier die Erfüllung des Daseins, die mir offen steht. – Von einem talmudischen Lehrmeister ist überliefert, die Bahnen des Himmels seien ihm erhellt gewesen wie die Straßen seiner Heimatstadt Nehradea. Der Chassidismus kehrt den Spruch um; größer ist es, wenn die Straßen der Heimatstadt erhellt sind wie die Bahnen des Himmels. Denn hier, wo wir stehen, gilt es das verborgene göttliche Leben aufleuchten zu lassen.

Und hätten wir Macht über die Enden der Erde, wir würden an erfülltem Dasein nicht erlangen, was uns die stille hingegebene Beziehung zur lebendigen Nähe geben kann. Und wüssten wir um die Geheimnisse der oberen Welten, wir hätten nicht so viel wirklichen Anteil am wahren Dasein, als wenn wir im Gang unseres Alltags ein uns obliegendes Werk mit heiliger Intention verrichten. Unterm Herd unseres Hauses ist unser Schatz vergraben.
Martin Buber

Sich mit sich nicht befassen

Sich mit sich Rabbi Elieser erwiderte ihm: »Ihr habt nur euch im Sinn. Vergesst euch und habt die Welt im Sinn!« Was hier gesagt wird, widerspricht dem Anschein nach allem, was ich hier bisher aus der Lehre des Chassidismus mitgeteilt habe.

Wir haben gehört, jeder solle sich auf sich selbst besinnen, er solle seinen besonderen Weg erwählen, er solle sein Wesen zur Einheit bringen, er solle bei sich selbst beginnen; nun aber wird uns gesagt, man solle sich selber vergessen.

Aber man muss genauer hinhorchen, dann stimmt dies nicht bloß mit dem andern überein, sondern es fügt sich als notwendiges Glied, als notwendiges Stadium an seiner Stelle ins Ganze.

Man braucht nur eine Frage zu fragen: »Wozu?«

Wozu brauch ich mich auf mich selbst besinnen, wozu meinen besonderen Weg erzählen, wozu mein Wesen zur Einheit bringen? Die Antwort lautet: Nicht um meinet willen.

Darum hieß es auch das vorige Mal: bei sich selbst beginnen, aber nicht bei sich enden; von sich ausgehen, aber nicht auf sich abzielen; sich erfassen, aber sich nicht mit sich befassen.
Martin Buber

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Heini Staudinger, Martin Buber

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