Der schmale Grat der Hoffnung
Der schmale Grat der Hoffnung
Brennstoff Nr. 48 | Jean Ziegler, Alexander Behr | 13.02.2024 | 10 Minuten

Im Gespräch mit Alexander Behr beschwört Jean Ziegler die planetarische Zivilgesellschaft. Ihr Kennzeichen: ein neues, erweitertes Identitätsbewusstsein.

brennstoff Herr Ziegler, Ihr soeben erschienenes Buch heißt »Der schmale Grat der Hoffnung – meine gewonnenen und verlorenen Kämpfe, und die, die wir gemeinsam gewinnen werden«. Wo ist denn eigentlich die Hoffnung? Hungerkrise in Ostafrika, gleichzeitig laufen die Vorbereitungen für den G20 Gipfel in Hamburg, der im Juli stattfinden wird. Was erwarten Sie sich von dem Gipfel?

Jean Ziegler Wenn man die bisher stattgefundenen Gipfel ansieht – Heiligendamm, den Gipfel im schottischen Gleneagles usw. - kann man feststellen, dass jedes Mal Milliarden an Hilfsgeldern für Afrika versprochen worden sind. Doch von diesen versprochenen Hilfsgeldern ist praktisch nichts ausbezahlt worden.

Insgesamt sind eine Milliarde von den 7,3 Milliarden Menschen auf diesem Planeten permanent schwerst unterernährt – sie haben aufgrund dessen kein Sexualleben, kein Arbeitsleben, nichts; diese Menschen sind verzweifelt, sie haben Angst vor dem nächsten Tag. Doch derselbe World Food Report, der die Opferzahlen feststellt, sagt nun, dass die heutige Landwirtschaft, wie sie jetzt ist, problemlos zwölf Milliarden Menschen ernähren könnte, also fast das doppelte der aktuellen Weltbevölkerung. Ein Kind, das in diesem Moment an Hunger stirbt, wird ermordet. Heute gibt es keinen objektiven Mangel an Nahrungsmittel auf der Welt mehr. Das Problem ist nicht die fehlende Produktion, sondern der fehlende Zugang und die fehlende Kaufkraft.

Ein Grund für den Hunger ist die Börsenspekulation mit Grundnahrungsmittel. Wir können den Nationalrat morgen früh dazu zwingen, einen einzigen Gesetzesartikel zu ändern und die Börsenspekulation auf die Nahrungsmittel Mais, Getreide und Reis zu verbieten – denn es gibt ja keine Börse, die im rechtsfreien Raum agiert. Millionen von Menschen wären durch solch eine Maßnahme innerhalb kürzester Zeit gerettet. Es sind nicht Marktkräfte, die die Welt nach vermeintlichen Naturgesetzen beherrschen, sondern immer noch Menschen, die die Gesetze machen.

brennstoff Hat nun die Zivilgesellschaft bei den Protesten in Hamburg die Aufgabe, die reichen Staaten davon zu überzeugen, ihrer humanitären Verpf lichtung bei den Pledging-Konferenzen nachzukommen?

Jean Ziegler Mein Buch trägt den Titel »Der schmale Grat der Hoffnung«. Der Grat ist schmal, aber die Hoffnung ist reell. Die Zivilgesellschaft, diese mysteriöse Bruderschaft der Nacht, die aus all den vielfältigen Bewegungen zusammengesetzt ist, aus den Kirchen, den Gewerkschaften, den NGOs, die an ganz verschiedenen Fronten gegen die kannibalische Weltordnung und gegen die Staatsraison Widerstand leisten, diese Zivilgesellschaft ist das neue historische Subjekt. Sie ist die Hoffnungsträgerin. Die Zivilgesellschaft hat kein Parteiprogramm, keine Parteilinie und kein Zentralkomitee – sie funktioniert nur nach dem kategorischen Imperativ. Menschen aus allen sozialen Klassen, Religionen und Altersgruppen kommen hier zusammen. Immanuel Kant hat gesagt: »Die Unmenschlichkeit, die einem anderen angetan wird, zerstört die Menschlichkeit in mir.« Es geht schlicht um das Identitätsbewusstsein: Ich bin der andere, der andere ist ich. Diese einfache Feststellung ist der Motor des zivilgesellschaftlichen Aufstandes. Che Guevara hat gesagt: »Die stärksten Mauern fallen durch Risse.« Die kannibalische Weltordnung wird fallen – jedoch nicht weil die Staatschefs erwachen: die Präsidenten der G20 – Trump, Merkel usw. - sind überdeterminiert durch die Befehle, die Strategien und den Willen der Oligarchien des globalisierten Finanzkapitals. Diese Oligarchien haben eine Weltdiktatur errichtet: Laut Weltbankstatistik vom letzten Jahr haben die 500 größten transnationalen Privatkonzerne aus allen Sparten, also Industrie, Finanzsektor usw. 52,8 % des Weltbruttosozialproduktes kontrolliert, also mehr als die Hälfte aller auf der Welt in einem Jahr produzierten Reichtümer. Diese Konzerne entziehen sich jeglicher sozialstaatlicher, gewerkschaftlicher oder parlamentarischer Kontrolle. Sie können zwar auch sehr viel – beispielsweise beherrschen sie den wissenschaftlich-technologischen Fortschritt; jedoch haben sie ein einziges Aktionsprinzip und eine einzige Strategie, und zwar die Profitmaximalisierung in möglichst kurzer Zeit. Diese Konzerne haben heute eine Macht, wie sie nie ein Kaiser, nie ein König zuvor auf diesem Planeten gehabt hat; sie sind stärker als alle Staaten. Es handelt sich hier um ganz schmale Oligarchien, die unglaublich mächtig sind. Die Staatschefs der G20 sind lediglich Wasserträger, Gehilfen und Ausführer der Interessen der Konzerne. Die Präsidenten sind Komplizen der Privatunternehmen, keine autonomen Staatslenker. Doch ihnen gegenüber gibt es nun ein neues historisches Subjekt, nämlich die planetarische Zivilgesellschaft. Sie wird in Hamburg präsent sein. Ich selbst werde auch kommen und sprechen. Hamburg ist der Ort, an dem der Widerstand formiert wird.

brennstoff Sie haben für das Buch »Mein Weg vom Kongo nach Europa« von Emmanuel Mbolela, das beim Wiener Mandelbaum-Verlag erschienen ist, das Vorwort geschrieben. Außerdem haben Sie den einzigen Roman, der von Ihnen erschienen ist, »Das Gold von Maniema«, ebenfalls dem Kongo gewidmet. Was verbindet Sie mit den Befreiungskämpfen auf dem afrikanischen Kontinent und speziell im Kongo?

Jean Ziegler Ich verdanke dem Kongolesischen Volk sehr, sehr viel – dort hatte ich meine erste bezahlte Arbeit. Nach der Ermordung von Lumumba im Jahr 1961 hat der großartige Dag Hammarskjöld, der dann im September desselben Jahres ebenfalls ermordet wurde, die Verwaltung des Kongo übernommen. Es war das erste Mal, dass die UNO die Zivilverwaltung und auch die militärische Verwaltung eines ganzen Landes übernahm. Im Kongo gab es zu dieser Zeit den ersten Blauhelmeinsatz weltweit; dieser Schritt war notwendig, um gegen die Söldner zu kämpfen, die an der Seite der Kolonialisten die Sezession der südlichen Provinz Katanga anstrebten. Damals hatte ich eine kleine, unwichtige Stelle als Assistent von Brian Urquhart, dem Spezialbeauftragten von Dag Hammarskjöld. Bei meinem Einsatz im Kongo gab es ein Schlüsselerlebnis – das ich erst viel später als solches erkannt habe. Das letzte Hotel in Kalina, das noch funktionierte, war unser Hauptquartier. Es war mit Stacheldraht umgeben. Im zweiten Stock war der Speisesaal. Jeden Abend leerten die indischen Köche die Essensreste über den Stacheldrahtzaun – Brot, Fleisch, Gemüse usw. Gurkha-Soldaten – Blauhelme aus Nepal – bewach ten uns. Jeden Abend, bei Einbruch der Dunkelheit, kamen aus den Elendsvierteln von Kinshasa, das damals noch Leopoldville hieß, die hungernden Menschen – Mütter, die, obwohl sie 20 Jahre alt waren, aussahen, als ob sie 80 gewesen wären. Menschen mit eingefallenen Gesichtern, Kinder mit spindeldürren Beinen ... Sie kletterten auf die Stacheldrahtumzäunung, um Nahrungsreste zu ergattern. Die Blauhelme, die uns bewachten, schlugen mit Gewehrkolben auf ihre Köpfe ein und warfen sie zurück auf die Straße. Wir hingegen waren zur gleichen Zeit im Speisesaal im zweiten Stock, aßen gut und wurden von diskreter Musik berieselt. Ich war Zeuge dieser Geschehnisse und habe mir damals geschworen, dass ich – was auch immer geschehen möge – niemals mehr auf der Seite der Henker stehen werde.

brennstoff Sie haben sich sehr dafür eingesetzt, dass Angehörige der Opfer der Shoa Zugang zu den so genannten »nachrichtenlosen« Bankkonten in der Schweiz bekommen konnten. Was ist damals passiert?

Jean Ziegler Als Hitler an die Macht kam, war schnell klar, dass es Diskriminierungen gegen die jüdische Bevölkerung geben würde – das fürchterliche Verbrechen der Shoa war natürlich noch nicht absehbar. Doch klarerweise haben zahlreiche jüdische Gemeinden, Unternehmen usw. ihr Geld in die Schweiz geschickt, obwohl dies unter Androhung der Todesstrafe verboten war. Geld ins Ausland zu schaffen, war für die jüdische Bevölkerung eine logische Maßnahme der Selbstverteidigung. Dann kam das fürchterlichste Verbrechen, das man sich vorstellen kann: die Vernichtung von sechs Millionen Juden und Jüdinnen. Die Schweizer Bankiers haben danach darauf gehofft, dass diese Kunden nicht mehr kommen würden und haben die Konten der Juden und Jüdinnen einfach in die stillen Reserven ihrer Banken überführt. Sie haben sich das Geld auf diese Weise illegitim angeeignet, sie haben es praktisch gestohlen!

Ich war damals im Nationalrat in der außenpolitischen Kommission und hatte das Buch »Die Schweiz, das Gold und die Toten« geschrieben. Das Buch war übersetzt und in Amerika herausgegeben worden – ich wurde daraufhin vom amerikanischen Senat und der Untersuchungskommission eingeladen, um für den Jüdischen Weltkongress Zeugnis abzulegen. Das hatte zur Folge, dass ich in der Schweiz wegen Landesverrat angeklagt wurde. Dennoch mussten die Diebe in den Vorstandsetagen der Schweizer Banken letztlich einlenken. Sie strebten einen Vergleich an, der sich schlussendlich auf 1,2 Milliarden Dollar belief – das war natürlich eine viel zu geringe Summe. Ich verstand aber damals auch die Dringlichkeit der Sache: Michael Hausfeld, einer der Anwälte, mit denen ich zusammenarbeitete, betonte, dass viele der Nachfahren der ermordeten Juden und Jüdinnen in den USA in großer Armut lebten und dringend auf Unterstützung angewiesen seien; es war also besser, das Geld auszubezahlen, anstatt mittels Sammelklagen über viele Jahre hinweg zu prozessieren, bis es letztendlich zu spät sei. So wurde der Vergleich akzeptiert. Es war trotz der Abstriche ein gewisser Erfolg.

brennstoff Ich möchte nun mit einer Frage zurückgehen ins Jahr 1973: Sie haben nach dem Putsch in Chile zusammen mit vielen anderen Aktiven die Schweizer Freiplatz-Aktion für Chile-Flüchtlinge ins Leben gerufen. Worin bestand diese Aktion und wäre dieser Ansatz eine Inspiration für die Aufnahme von Geflüchteten in der heutigen Zeit?

Jean Ziegler Ja, ganz sicher. Im September 1973 wurde Allende gestürzt und starb. Danach setzte die fürchterliche Repression von Pinochet ein. Tausende Menschen wurden gefoltert und ermordet, doch vielen gelang es, zu fliehen. Die Regierung der schweizerischen Eidgenossenschaft sagte daraufhin, dass man diese Flüchtlinge nicht aufnehmen werde – viele rechtfertigten diese Haltung damit, dass man doch keine Kommunisten ins Land lassen könne. Ich war damals im Parlament und habe es selbst miterlebt – in den Debatten fielen die übelsten Argumente. Dann ist allerdings die Zivilgesellschaft gegen die Regierung aufgestanden und hat sich organisiert: Protestantische Pfarrer im Tessin, viele junge Leute, unter anderem von der Genossenschaftsbewegung Longo Mai und von anderen Gruppen, außerdem der großartige, mittlerweile leider verstorbene Priester Cornelius Koch. Diese Menschen haben nun gesagt: So geht das nicht – die Chilenen haben für unsere Ideale gekämpft, sie haben ihr Leben für die Demokratie aufs Spiel gesetzt, sie werden verfolgt und gepeinigt und suchen Zuflucht; wir müssen ihnen helfen! Wenn die Regierung behauptet, wir hätten keinen Platz, es gäbe kein Budget für die Aufnahme, es wäre technisch nicht möglich usw., dann werden wir zeigen, dass es sehr wohl möglich ist. Tausende Familien haben sich daraufhin bei der Freiplatzaktion gemeldet und kundgetan, dass sie chilenische Flüchtlinge aufnehmen werden. Daraufhin knickte die Regierung ein und konnte nicht mehr widerstehen. Die Freiplatz-Aktion war natürlich für die flüchtenden Chileninnen und Chilenen eine sehr wichtige Sache, doch in erster Linie haben die Schweizer profitiert: die kulturelle Bereicherung durch die Chile-Flüchtlinge war enorm. Ich bin Mitglied der sozialdemokratischen Partei in Genf, das ist eine kleine Sekte [ lacht ]. Ich bin der Meinung, dass die schweizerische Linke längst tot wäre, hätte es nicht die chilenischen Flüchtlinge gegeben, die nach ihrer Ankunft in die sozialdemokratische Partei oder in die Partei der Arbeit eingetreten sind. Sie haben ihre Erfahrung und ihre Energie eingebracht und wir müssen ihnen dafür sehr dankbar sein.

Wir bräuchten heute eine Freiplatz-Aktion wie damals – und zwar zu unseren eigenen Gunsten! Es geht ja nicht nur darum, Gastfreundschaft zu üben; es geht auch darum, von den anderen zu lernen! Es geht darum, zu begreifen, dass die kulturelle Symbiose immer eine ungeheure Bereicherung für die Menschen im Gastland ist.

brennstoff Sie schreiben in Ihrem Buch, dass Sie im tiefsten Inneren davon überzeugt sind, dass die Geschichte einen Sinn hat – sie sagen, dass sie an die Menschwerdung des Menschen glauben. Inwie weit unterscheidet sich Ihr Weltbild vom Stufenmodell des klassischen historischen Materialismus?

Jean Ziegler Ich bin ein Bolschewik, der an Gott glaubt. Ich möchte mich Victor Hugo anschließen, der gesagt hat: »Ich hasse alle Kirchen, ich liebe die Menschen, ich glaube an Gott.« Die Liebe, die ich in meinem Leben erfahren habe, sowie die Liebe, die ich in den weltweiten Befreiungsbewegungen gesehen habe, die zeigt, zu welch großen Taten der Mensch fähig ist.
Das Interview führte Alexander Behr.

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ein Artikel von

Jean Ziegler, Alexander Behr

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