Von Natur aus gut, aber kulturell verdorben
Ein Beispiel dafür, dass antisoziales Verhalten im Unterschied zu prosozialem Verhalten gelernt werden muss, liefern die Forschungen, die die Arbeitsgruppe von Michael Tomasello am Leipziger Max-Planck-Institut für Evolutionäre Anthropologie durchführt, vergleichende Forschungen über die Entwicklung von Kindern und nichtmenschlichen Primaten. Eine Studie hat das Hilfsverhalten von Kindern zum Gegenstand:
Ein Mann wird von zwanzig Monate alten Kindern dabei beobachtet, wie er mit einem Stapel Bücher in den Händen vergeblich versucht, eine Schranktür zu öffnen. Gewöhnlich helfen Kinder spontan, wenn sie mit solchen Situationen konfrontiert sind. In einer Versuchsanordnung wurden drei verschiedene Gruppen von Kindern gebildet: Die Kinder der ersten Gruppe erhielten für ihre Hilfe eine Belohnung, die der zweiten wurden gelobt, wenn sie halfen, bei der dritten erfolgte auf die Hilfeleistung gar nichts. Das Ergebnis: Während die Kinder der zweiten und der dritten Gruppe über die komplette Versuchsreihe hinweg hilfsbereit blieben, stellten die Kinder, die belohnt worden waren, ihre Hilfe nur noch dann in Aussicht, wenn ihnen eine weitere Belohnung versprochen wurde. Die unbedingte Hilfsbereitschaft hatte sich in eine bedingte verwandelt – anders gesagt: Das prosoziale Kooperationsverhalten hatte sich unter kulturellem Einf luss in antisoziales, gewinnorientiertes Verhalten transformiert.
Harald Welzer, Selbst denken. Eine Anleitung zum Widerstand
Was fehlt
Sehen Sie, das zugrundeliegende Problem ist doch eine Sinn- und Identitätskrise. Was gab den Menschen früher Halt ? Einen Sinn, eine Identität? Die Gemein schaft, die Religion und nicht zuletzt die Arbeit. Das Geld, der unpersönliche Vermittler, hat die Gemein schaft zertrümmert. Die Wissenschaft hat die religiösen Götzen vom Sockel gestoßen und die Automatisierung nimmt euch jetzt auch noch die Arbeit. ( ... )
Früher war der Schmied des Dorfes X ja nicht einfach irgendein Typ. Er war der Schmied des Dorfes X. Das war seine Identität. Wenn man ihn gefragt hat, wer er sei, konnte er antworten: »Ich bin der Schmied des Dorfes X.« ( ... ) Ein Freelancer, ein Zeitarbeiter, ein Arbeitsloser, sie alle können schwerlich aus ihrer Ar beit eine Identität schöpfen. Selbst die wenigen Fest angestellten haben oft Schwierigkeiten, in ihrer Arbeit einen Sinn zu sehen. Wen wundert’s. Ich habe vor kurzem einen Betrieb be sucht, in dem ein Team intelligenter und hochqualifizierter Wissenschaftler gerade ein Küchengerät entwickelt, dessen einziger Zweck es ist, aus einer Portion Blaubeeren die verschimmelten herauszusortieren. Mit so etwas kann man sich höchstens beschäftigen. Eine Berufung ist das nicht. ( ... )
Auf der Flucht vor Sinnlosigkeit, Identitätsverlust und Isolation stürzen sich die Menschen darum auf alle Angebote zur Imagination von Sinn und Gemeinschaft, so stupide sie auch sein mögen. Und das ist es, was der Nationalismus mit dem Fundamentalismus gemein hat. Sie sind beide stupide Angebote zur Imagination von Ge meinschaft. Ich sage »Imagination«, weil die Ge meinschaft nicht real ist, denn es geht hier nicht um gerechte Teilhabe, sondern im Gegenteil gerade um die Verschleierung und Festigung sozialer Ungleichheiten. ( ... ) Diese Bewegungen erhöhen die eigene Grup pe dadurch, dass andere – die Ungläubigen, die Ausländer, die Nutzlosen usw. – erniedrigt werden. Es handelt sich zwar um große Erzählungen, aber um negative. Was den Menschen fehlt, ist eine große, positive Erzählung.
Marc Uwe Kling, Quality Land. Satirischer Roman. Ullstein
Gute Nachbarn
Willy Brandt hat einmal wunderbar formuliert: »Wir wollen ein Volk der guten Nachbarn sein, nach innen und nach außen.« Auf dieser Sozialphilosophie hat Brandt seine gesamte Politik gebaut, national wie international. Dahinter stand der Gedanke: Gute Nachbarn gewinnt man nur, wenn man selbst einer ist. Das gilt für die Welt und für Europa genauso wie für den Ort, an dem man lebt. Einen guten Nachbarn zu haben ist für das gesamte Lebensgefühl ungeheuer wichtig.
Erhard Eppler, Niko Paech Was Sie da vorhaben, wäre ja eine Revolution ... Ein Streitgespräch über Wachstum, Politik und eine Ethik des Genug, moderiert von Christiane Graefe. oekom Verlag