Aufhören? Ja, bitte!
Aufhören? Ja, bitte!
Brennstoff Nr. 66 | Marianne Gronemeyer | 23.01.2024 | 10 Minuten

„An einer U-Bahnhaltestelle in Washington D.C. spielte ein Mann an einem kalten Januar Morgen für 45 Minuten auf seiner Violine 6 Stücke von Bach. Während dieser Zeit passierten ca. 2000 Menschen diese Haltestelle, die meisten auf dem Weg zur Arbeit. Nach etwa drei Minuten bemerkte ein Passant die Musik.

Ein paar Sekunden
Für ein paar Sekunden verlangsamte er seine Schritte, um dann schnell wieder seinen Weg zur Arbeit fortzusetzen.“ Kurz darauf wirft eine Frau dem Geiger im Vorbeigehen einen Dollar in den Hut; ein junger Mann bleibt einen Augenblick stehen, um zuzuhören, schaut auf die Uhr und hastet weiter; ein Kind will dableiben, wird aber von der Mutter weggezerrt. Nach 45 Minuten waren 6 Menschen für kurze Zeit stehengeblieben, und der Geiger hatte 32 Dollar in seinem Hut

Nach einer Stunde
packte er seine Geige ein, niemand wusste, dass er auf einer Stradivari gespielt hatte, dass er selbst Joshua Bell, ein weltberühmter Violinist, war und dass er eines der schwierigsten und reichsten Werke der Musikgeschichte gespielt hatte. Und da wir uns fatalerweise dazu verführen lassen, für kostbar zu halten, was viel kostet, füge ich hinzu, dass die Stradivari dreieinhalb Millionen Dollar kostet und die Eintrittskarten für das zwei Tage zuvor in Boston gespielte Konzert mit demselben Programm für um die 100 Dollar zu haben waren.

Aufhören
Warum erzähle ich diese Begebenheit in einem Artikel, der vom ‚Aufhören‘ handeln soll? Ich erzähle sie, um einen Zusammenhang zu erläutern, der uns in der gebräuchlichen Vorstellung von dem, was ‚aufhören‘ heißt, abhandengekommen ist. Lassen Sie mich raten, was Ihnen, liebe Leserinnen und Leser in den Sinn kommt, wenn Sie an „Aufhören“ denken. Vielleicht haben Sie ein mulmiges Gefühl dabei. Es riecht sehr nach herbem Verzicht: Es klingt nach Schwäche, Versagen, Scheitern, Überdruss. Aber auch nach Krise und Niedergang. Und schließlich nach Abschied, Endgültigkeit, Unausweichlichkeit. Es gemahnt an den Tod.

Die guten Seiten vom Aufhören
Andererseits hat ‚Aufhören‘ auch seine guten Seiten, dann nämlich, wenn man etwas beenden kann, was lästig, mühsam oder ängstigend ist. Natürlich hat sich inzwischen weltweit herumgesprochen, dass es „so“ nicht weitergehen kann, dass wir also als Menschheit und als Individuen ans ‚Aufhören‘ denken müssen, wenn sich etwas ändern soll. Nur: trotz dieser Einsicht bleibt alles wie bisher, und wir lassen uns wider besseres Wissen von den Weltverbesserern in den diversen Silicon Valleys dieser Welt vorgaukeln, die nächste technische Innovation werde es schon richten. Und obwohl erwiesenermaßen die modernen hochtechnischen Innovationen bestenfalls vorrübergehende Reparaturen am angerichteten Schaden zustandebringen, schlimmenfalls aber mehr Schaden anrichten als sie nützen, lassen wir unserem gesunden Menschenverstand sogar einreden, mit technisch immer monströseren Waffensystemen ließe sich Frieden herbeibomben

Doppeldeutig
Die melancholisch stimmende Geschichte, die ich erzählt habe, führt unsere Überlegungen in eine ganz andere Richtung. Denn das Wort ‚aufhören‘ ist in der deutschen Sprache doppeldeutig. Es heißt einerseits ‚beenden‘, (lateinisch: finire, englisch: to finish) und andererseits: ‚auf etwas hören‘, (lateinisch: audire, englisch: to listen). Diese Doppeldeutigkeit ist auf den ersten Blick unverständlich. Wie kamen unsere sprachschöpferischen Vorfahren dazu, sich für zwei so verschiedene Tätigkeiten wie ‚beenden‘ und ‚lauschen‘ mit dem einen Wort ‚aufhören‘ zu begnügen? Nicht weil sie zu phantasielos waren, um ein zweites zu erfinden; sondern weil sie tiefsinnig der Tatsache eingedenk waren, dass diese beiden Tätigkeiten einander so sehr bedingen, dass sie nur die beiden Seiten einer und derselben Sache sind. Man kann nicht auf-hören, (genau hinhören / audire) ohne mit allem, was man gerade tut, aufzuhören (finire). Umgekehrt gilt, dass wir etwas nur dann beenden, wenn wir auf etwas gehört haben, auf etwas aufmerksam geworden sind, das uns aufzuhören heißt. Und genau davon erzählt die Szene im U-Bahnhof von Washington D.C.

Ganz Ohr´
Um wirklich auf das Geigenspiel zu hören, das der Maestro den Passanten in dieser betriebsamen Unterwelt bot, - und zwar ganz und gar umsonst, was in unserer Welt, in der alles seinen Preis hat, schon wundersam genug ist –, hätten sie stillstehen müssen, gleichsam wie angewurzelt. Sie hätten, wie wir sagen ‚ganz Ohr‘ werden müssen. Aber selbst der junge Mann, der einen Augenblick lang in der ‚Gefahr‘ war, in den Bann der Musik zu geraten, hat sich dann doch dem Diktat seiner Armbanduhr, des Fahrplanes und dem unerbittlichen Regime seines Arbeitstages gefügt. Der Zwang der Alltagsroutine war eben stärker, als die Musik. Und die Frau hat, weil sie nicht aufgehorcht hat, die ganze Situation missverstanden. Sie glaubte, die Gebende zu sein und war tatsächlich die Beschenkte. Vielleicht müssen wir einen Unterschied machen zwischen denen, die sich mit Bedauern losgerissen haben und jenen, die gar nicht das Gefühl hatten, etwas zu versäumen, ja nicht einmal gewahr wurden, dass sich dort unten im lärmenden Gewimmel etwas Außerordentliches ereignete.

Arroganz
Aber mache ich mich damit nicht bildungsbürgerlicher Arroganz schuldig und bilde mir etwas darauf ein, dass ich von Bachs Musik ergriffen werde? Wäre ich denn stehengeblieben, wenn ich es eines unaufschiebbaren Termins wegen eilig gehabt hätte? Und warum sollte man denn auf etwas hören, was einen nicht interessiert? Ist das nicht pure Zeitverschwendung? Was haben diejenigen, denen Bachs Musik nichts bedeutet, denn verpasst. Und was hat der Meister überhaupt den Desinteressierten zu bieten gehabt?

Innehalten um zu hören oder ...
In welcher Reihenfolge sich das Geschehen abspielt, ob ich erst innehalten, muss, um etwas hören zu können, oder ob ich erst etwas hören muss – einen Ruf, einen Klang, eine innere Stimme, um innezuhalten, ist so unentscheidbar wie die Frage ob Huhn oder Ei zuerst da waren. Dieser auslösende erste Moment des Aufmerkens ist ein Geheimnis, man kann ihn nicht herstellen oder planen. Wir kennen alle diese Situationen, in denen unsere Aufmerksamkeit von etwas angesogen wird, an dem wir hundertmal achtlos vorbeigegangen sind, hundertmal haben wir nichts Auffälliges daran gefunden, haben es gesehen, gehört oder gerochen, ohne es zu sehen, zu hören oder zu riechen. Es war unscheinbar und auf einmal wird unsere Wahrnehmung geradezu magisch angezogen und mindestens einer unserer Sinne wird hellwach und aktiv. Diese Fähigkeit, der wachen Sinne, etwas auf sich wirken und sich in Unruhe versetzen zu lassen, haben die alten Griechen ‚dynamis‘ genannt.

Dynamis - aktiv UND passiv!
Dynamis ist das doppelte Vermögen etwas zu bewirken und die Fähigkeit etwas an sich geschehen zu lassen, etwas zu tun und etwas zu erleiden, aktiv und passiv zu sein. In unserer modernen Zivilisation ist die Balance zwischen beiden in eine fatale Schief­lage geraten. Nur die Seite des Bewirkens, des Machens, der Berechenbarkeit, der Kontrolle und Planbarkeit wurde kultiviert. Alles, was ‚von selbst‘ und ‚umsonst‘ ist, was uns zufällt und überrascht, was wir nicht in der Hand haben, die Seite der Empfänglichkeit unserer Sinne wurde in der westlichen Moderne nicht nur vernachlässigt, sondern als störend empfunden und niedergehalten. Unseren Sinnen wurde ihr Eigensinn aberkannt, sie wurden konsumistisch.

Wirklich wirklich?
Die Augen begnügen sich damit zu sehen, was ihnen auf den großen und kleinen Bildschirmen gezeigt wird und wir nennen das ‚Wirklichkeit‘, die Ohren damit, zu hören, womit sie beschallt werden, der Gaumen mit dem, was ihm die Fast-food-Industrie gönnt, die Nase mit den allgegenwärtigen Wohlgerüchen aus diversen Sprühdosen, und die Hände gleiten widerstandslos über allseits abgerundete und geglättete Oberflächen. Diese konsumistisch zugerichteten Sinne können uns beim Aufhören nicht helfen. Im Gegenteil, weil sie, dermaßen abgespeist, leer ausgehen, werden sie gierig und schläfrig zugleich, befinden sich in dem gleichen somnambulen Zustand, in den der Konsumismus alles versetzt, womit er in Berührung kommt: er treibt ihm die Lebendigkeit aus. Wahrscheinlich ist das größte Geschenk, das der Künstler seinen Zuhörern macht, beinah mehr noch als seine Musik, dass er sich an ihre wachen Sinne wendet; dass er sie an ihre gespitzten und nicht eingelullten Ohren erinnert; dass er sie an einer Wirklichkeit teilhaben lässt, die kein Bildschirm ihnen bieten kann, etwas, das es nur jetzt und niemals wieder gibt; dass er dieser trostlosen Unterwelt, die nur dem einzigen Zweck dient, dass man sie schnellstens hinter sich lässt, einen Zauber gibt, der sie zu einem gastlichen Ort des Verweilens macht. So hätte es sein können. Aber so war es nicht.

Wie-alle-Tage-Tag
Die Darbietung war nicht eine freie Gabe des Künstlers an die Menschen, die an einem “Wie-alle-TageTag“ (Kurt Marti) durch diesen Nicht-Ort hetzten. Sie war ein Experiment, von der ‚Washington Post‘ initiiert, unter der Vorannahme, dass die Adressaten ihrer Abgestumpftheit überführt werden würden. Ich habe von Anfang an die Geschichte traurig gefunden, weil sich die Musik in ihr als so ohnmächtig erwies. Ich finde sie immer noch traurig, aber jetzt, weil das ganze Geschehen mit den darin wirksamen unfreundlichen Absichten, nur allzu gut in unsere unfreundliche Zeit passt.

Salto vitale
Aber jetzt wage ich mit einem ‚salto vitale‘ zu fragen: Könnte es nicht sein, dass die potentiellen Zuhörer gespürt haben, dass nicht sie selbst gemeint waren mit der großartigen Darbietung, sondern dass es dabei darum ging, einen über sie gehegten Verdacht zu bestätigen. Experiment geglückt. Sie haben ihren Stumpfsinn zur Schau gestellt. Hätte die Episode vielleicht ganz anders ausgehen können, wenn der Geiger einem freundlicheren Antrieb gefolgt wäre, statt einem PR-Experiment? Ich selber bin der Geschichte, weil ich nicht hellhörig genug gewesen war, auf den Leim gegangen. Man hätte ja wissen können, dass all die präzisen Angaben über das Kommen und Gehen der Passanten entweder frei erfunden oder der Output einer Kameraüberwachung waren. Wahrscheinlich waren etliche von der zuständigen Versicherungsgesellschaft angeheuerte Sicherheitskräfte zum Schutz der Stradivari - nicht des Geigers - vor Ort.

Zwei Fragen
Wieder einmal bin ich überzeugt worden von der Wichtigkeit zweier Fragen, auf die die ganze ‚Weisheit‘ meiner 82 Lebensjahre zusammenschrumpft. Wohlgemerkt: Es sind Fragen mit offenem Ausgang keine Lehrsätze.

Die erste Frage lautet:
„Und wenn es nun ganz anders ist?“ Sie ermahnt mich, die Scheinwelt, die sich um uns Medienkonsumenten herum auftürmt, die unsere Sinne entmündigt, unsere Erfahrung für unerheblich erklärt und der ‚Monokultur des Denkens‘ (Vandana Shiva) Vorschub leistet, zu bezweifeln. „Die Erneuerung der Gesellschaft muß vom Zweifel ausgehen. Der erste Schritt dazu ist eine skeptische, respektlose Einstellung der Bürger gegenüber dem wissenschaftlichen Experten“, sagt der der große Kulturkritiker Ivan Illich; und gegenüber den massenmedialen Verlautbarungen, füge ich hinzu.

Die zweite Frage lautet:
„Können Sie mir helfen?“ Diese Frage ist ein ‚Sesam-öffne-dich’ für die Bereitschaft von Mitmenschen aufzuhören. Ich könnte viele Geschichten erzählen, in denen Menschen auf diese Frage hin ihre Alltagsroutinen unterbrochen haben, um auf meine Bitte um Beistand zu hören, wenn ich in Not gerate. Und da ich seit Kindertagen und Bunkernächten klaustrophob bin, ist das oft der Fall. Noch erstaunlicher, als dass sie es tun, ist die Tatsache, dass alle, buchstäblich alle, es können, sogar Kinder.

Umeinander kümmern - man muss nur fragen!
Vielleicht erlernen Menschen mit etwas, das sie besser lassen sollten, aufzuhören am ehesten, wenn sie anderweitig gebraucht werden. Die Bereitschaft, sich umeinander zu kümmern, ist viel größer als wir zu glauben wagen; man muss nur fragen. Als didaktischer Trick angewendet, verpufft allerdings die wundersame Wirkung dieser Frage. Die Kunst des Aufhörens könnte uns wachsam machen, gegen das, was Ivan Illich ‚Wirklichkeitsschwund‘ nennt. Und sie könnte uns gegen die Übermacht der allgegenwärtigen Konkurrenz feien, die uns hindert, uns miteinander und unserer Mitwelt zu befreunden.

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