Außer Kontrolle
Außer Kontrolle
Brennstoff Nr. 46 | Fabian Scheidler | 20.02.2024 | 2 Minuten

Warum Mensch und Natur verrückt spielen, wenn man sie wie Dinge behandelt

Eine verdinglichende Sicht auf die Welt kann zu tödlichen Fehleinschätzungen über die Natur dessen, womit man es zu tun hat, führen.

Wenn ich einen Fluß wie ein Ding, d. h. wie ein isolierbares, im Raum beliebig verschiebbares und in seinem Verhalten vorhersehbares, kontrollierbares Objekt behandle und ihn also durch Begradigungen, Uferbefestigungen, Aushe bungen usw. meinen Wünschen anzu passen suche, dann kann es geschehen, dass der Fluss in dem Maße, wie ich ihn unter meine Kontrolle bringen will, sich immer unkontrollierbarer und unvorhersehbarer verhält und z. B. plötzlich nie dagewesene Überschwemmungen ver ursacht.

Wenn ich einen Menschen wie ein Ding, d h. wie ein isolierbares, im Raum beliebig verschiebbares, in seinem Verhalten vorhersehbares, kontrollierbares Objekt behandle, indem ich ihn z. B. aus seinen angestammten Lebensverhältnissen reiße und zu einem austauschbaren Teil einer anonymen Wirtschaftslogik mache, dann kann es sein, dass dieser Mensch dies eine Weile mit sich geschehen lässt – doch eines Tages plötzlich mit einem Maschinengewehr in einem Schnellrestaurant auftaucht.

( Und weil solche Zusammenhänge in einer mechanischen Weltsicht nicht begreifbar sind, muss man für alles, was man nicht versteht, Scheinursachen erfinden – z. B. »das Böse im Menschen«, »Hysterie«, »Todestrieb«, »Verhaltensstörung«, »Hyperaktivität« u. dgl.)

Eine restlose Verdinglichung, Identifizierung und Kontrolle ist nur um den Preis des Todes zu haben. Über den See werde ich erst dann vollständig und endgültig Bescheid wissen, wenn ich ihn ausgepumpt und alle Bewohner säuberlich aufgespießt in Schaukästen ausgestellt habe. Das Objekt des Wissens und der Kontrolle verschwindet mit dem Fortschreiten derselben.

Solange aber nicht alles mausetot ist, kann auch keine vollständige Kontrolle existieren. Wenn aber tatsächlich alles mausetot ist, kann erst recht keine Kontrolle stattfinden, weil niemand mehr da ist, um irgend etwas zu kontrollieren.

Anstelle realer vollständiger Kontrolle kann immer nur der Schein vollständiger Kontrollierbarkeit hergestellt werden. So wird das Lebendige eingerahmt, mit allerhand Objekten, Zeichen und Instrumenten umgeben, in denen es nur noch wie ein zu vernachlässigender Rest erscheint. Es wird unsichtbar gemacht. Es wird überblendet. Und so kann es geschehen, dass wir einander unsichtbar werden. Dass wir nur noch die Ringe sehen, auf denen unsere Namen und unser Wert eingraviert sind, während das von ihnen Eingefasste verschwindet, stirbt, über die Ufer tritt und davon träumt, mit einem Maschinengewehr im Schnellrestaurant aufzutauchen, nur um überhaupt wahrgenommen zu werden.
Fabian Scheidler, Die volle und die leere Welt (2007)

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Fabian Scheidler

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