„Ein schlechtes Gewissen ist ein lebendiger Feind“, hat Jean-Paul Sartre gesagt. Fjodor Dostojewski kämpfte sein ganzes Leben gegen diesen „lebendigen Feind“. In seinem Roman Die Brüder Karamasow (1880) findet sich folgender Dialog: Iwan Karamasow: „Ich will leben, und ich lebe, und sei es gegen die Logik. Auch wenn ich an die Ordnung der Dinge nicht glaube, aber die klebrigen, im Frühling sich entfaltenden Blättchen sind mir teuer, teuer ist mir der blaue Himmel, teuer ist mir mancher Mensch, den ich liebe, ohne zu wissen, warum, ob du’s mir glaubst oder nicht; teuer ist mir manche menschliche Tat, an die man vielleicht längst nicht mehr glaubt, die man aber trotzdem in alter Erinnerung von Herzen achtet.“
Aljoscha: „Ja, unbedingt, (das Leben) lieben vor aller Logik, unbedingt vor aller Logik, dann erst wird auch der Sinn begreiflich. Die Hälfte deiner Sache ist getan, Iwan, und gewonnen. Du lebst gerne. Jetzt musst du dich auch um die zweite Hälfte bemühen, und du bist gerettet.“
Wie Iwan Karamasow lehne ich intellektuell diese Weltordnung ab. Aber wie er habe ich mich darin eingerichtet. Implizit nehme ich sie als normal hin. Durch mein alltägliches Handeln reproduziere ich sie.
Wir haben uns verstümmelt. Wie Millionen andere lebe auch ich ständig gegen mich. Zu tun, was man will, und zu wollen, was man tut, ist das Schwierigste, was es gibt. Niemand hat die richtige Theorie für seine Praxis, wir alle sind – in unterschiedlichem Ausmaß – unaufrichtig. as heißt, wir lügen, geben uns Illusionen und Täuschungen hin. Wir schmieden unsere Ketten selbst, unermüdlich, mit Energie und Eifer.
Wir füllen unsere sozialen Rollen aus, produzieren sie, reproduzieren sie, wie Beschwörungsrituale, als berge die Freiheit, die unerwartete Begegnung mit dem anderen, für uns schreckliche Gefahren.
Aber diese Rollen ersticken uns, schnüren uns langsam die Luft ab. Tief in unseren Körpfen haben wir Ketten, die uns hindern, frei zu denken, zu schauen, zu gehen, zu träumen, zu fühlen.