Achtung!
Achtung!
Nr. 46 - Achtung | Moreau, Roger Willemsen | 15.02.2024 | 3 Minuten

ist ein vieldeutiges Wort, je nach Tonlage. Schrill und laut kommt es als Warnung daher: pass auf! sagt es, sei vorsichtig! Oder es meint stachelig: keinen Schritt weiter, hier ist meine Grenze; wage nicht, mich zu verletzen! Ich könnte zurückschlagen. Behutsam und sanft meint Achtung: ich achte und beachte dich in deinem Sein, deiner Menschen würde, wie ich auch mich selbst achte. Ich nehme dich, wie du bist. Bin achtsam, höre genau zu, mir selbst oder dir und anderen oder dem Wind und den Vögeln, heißt: ich bin wach, bin da, gegenwärtig und zugeneigt.

Wer missachtet oder gar verachtet wird, leidet. Nicht beachtet zu werden, kränkt. »Beachtung ist ein menschliches Grundbedürfnis wie Hunger oder Durst oder Vitamin C«, sagt der Arzt und Psychotherapeut Wolf Büntig: »Wenn wir zu lange dursten, werden wir krank und sterben. Wenn wir zu lange kein Vitamin C bekomen, werden wir krank und sterben. Wenn wir keine Beachtung bekommen, werden wir krank – und sterben schließlich.« Wie die Chronik von Salimbene von Parma aus dem Jahr 1285 berichtet, soll König Friedrich II von Sizilien, Kaiser des Heiligen Römischen Reiches, durch ein Experiment heraus zufinden versucht haben, welche Sprache Kinder sprechen, wenn ihnen niemand etwas vorspricht, ob also Sprache angeboren oder erlernt sei. Ammen durften die Kinder stillen, baden und trocken legen, aber sie weder liebkosen noch mit ihnen sprechen. Keines der Kinder soll überlebt haben. Todesursache: Nicht-Beachtung. »Studiert, wie ihr Beachtung auf euch zieht, schenkt, aufnehmt und austauscht«, empfiehlt der Sufi Idries Shah. Wer das ernst nimmt, kann leicht entdecken, wie alles bestimmend dieses menschliche Grundbedürfnis nach Beachtung ist. Es ist, so meine ich, auch politisch relevant. Zumal unter den Bedingungen des real existierenden Neoliberalismus, der seit Reagan und Thatcher unter dem Deckmantel ausschließlich ökonomischer Effizienz sozialdarwinistische Verhaltensweisen insti tutionalisiert hat. »Der Markt« wurde zur obersten Gottheit ernannt, Egoismus und Konkurrenzdenken zu den wichtigsten Tugenden erhoben. Der neoliberale Vordenker Hayek meinte gar, »soziale Gerechtigkeit« sei »ein Unsinn«. Und sagte damit: Denk nur an dich, kümmere dich nicht um andere. The winner takes it all! Schwächere braucht man nicht zu be achten; wer auf der Strecke bleibt, ist selber schuld; scheiß auf Solidarität. Es herrscht ein Kult der Stärke und eine Verachtung allem Zarten und Schwachen gegenüber. Entsprechend wird seit dem Siegeszug der Markt fun damentalisten der Sozial staat demontiert. Viele Men schen spüren am eigenen Leib, dass das marktradikale Modell schlecht funktioniert. Die Ungleich heit hat bereits dramatische Ausmaße angenommen und droht unsere Gesell schaft auf Dauer zu zerreissen. Kein Wunder, denn wer den Wert von Menschen mit Geld misst, der kränkt den Menschen an sich. Kränkung kann Hass und Gewalt verursachen. Das Unbehagen wächst. Rechte Parteien, die traditionell ebenfalls einen Kult der Stärke pflegen und Schwächere verachten und ausgrenzen, werden stärker und lenken mit geschickter Propagan da und falschen Feind bil dern von den wahren Ursachen des Unbehagens ab. Wir wollen uns auf Spu rensuche begeben, Ur sachen und Zusammenhänge erkunden und herausfinden, was uns schadet und was uns gut tut. Dieses Heft ist ein bescheidener Anfang. Hochachtungsvoll:
Moreau

Hitler hat einmal in einem merkwürdig klarsichtigen Satz, über den ich mich immer gewundert habe, gesagt: Ich habe die Demokratie mit ihren eigenen Regeln zur Strecke gebracht. Von dieser Einsicht aus lohnt es sich, in allen Staaten, ganz egal, wie human sie verfasst sind, auf die Stellen zu schauen, an denen sie sozusagen umkippen können.
Roger Willemsen in einem Interview mit der taz, 2. März 2006

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Moreau, Roger Willemsen

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